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Von Wein und Demut

Was bedeutet es, Jude zu sein? Etwa 40 Jahre alt war Jechiel Jaschfe, als er sich diese Frage stellte. Bei einem Besuch in seiner Winzerei erzählt der heute 70-Jährige davon, wie die Suche nach einer Antwort sein Leben verändert hat. Neben besonderem Wein gibt es auch eine Lehrstunde in Sachen Torah und Kabbalah.
„Le Chaim“ – „auf das Leben“: Jechiel Jaschfe erhebt ein Glas Chardonnay aus seiner Produktion.
Enge Treppen führen von einer Straßenebene zur nächsten. Wir irren durch schmale Gassen, vorbei an alten Steinhäusern mit blau gestrichenen Mauern und Türen, Kunstgalerien und Käsereien. Safed, das Städtchen in den Bergen Obergaliläas, ist Juden heilig. Es gilt als Zentrum der Kabbalah, der mystischen Lehre des Judentums. In den vergangenen zweitausend Jahren lebten und wirkten hier zahlreiche jüdische Lehrer. Es ist ein grauer, nebliger Tag. Die Aussicht auf den See Genezareth bleibt unserer kleinen Gruppe von Deutschen verwehrt. Nur wenige Menschen sind unterwegs, die meisten Geschäfte geschlossen. Es sind Pessachferien. Auf die Frage nach der „Jaschfe Winzerei“ schütteln Passanten nur bedauernd den Kopf. Schließlich hilft ein Telefonanruf, und der Besitzer lotst uns zu seinem Anwesen. Dort angekommen müssen wir schmunzeln. Mindestens einmal sind wir bereits an diesem Haus vorbeigekommen. Erst jetzt fällt uns der Schriftzug „Jaschfe“ am dunkelblau gestrichenen Metallgartentor auf. Ein älteres Ehepaar nimmt uns freundlich in Empfang. Lea Jaschfe trägt ein langes Kleid, ein Tuch bedeckt ihr Haar. Ihr Mann Jechiel hat einen langen Bart, auf dem grauen Haar sitzt eine weiße Kippa. Unter seinem weißen Hemd ragen die traditionellen Schaufäden der orthodoxen Juden hervor. Wer eine große Winzerei mit modernen Maschinen und technischen Raffinessen erwartet hat, wird enttäuscht. Nichts in dem 150 Jahre alten Haus deutet darauf hin, dass hier Wein produziert wird. Aber schon der Spruch, mit dem Jechiel für seinen Wein im Internet wirbt, lässt vermuten, dass es sich um eine eher ungewöhnliche Winzerei handelt: „Gestampft mit den Füßen, den Rest gibt der Himmel.“ Für Jaschfe hat Wein eine ganz besondere Bedeutung. Er ist überzeugt: „Bei der Weinherstellung lässt sich herausfinden, ob man ein guter Jude ist oder nicht.“ Die Frage, was es überhaupt bedeutet, Jude zu sein, hat Jechiel der hebräischen Bibel nähergebracht. „Ich wurde nicht als religiöser Typ geboren, bin ohne die Torah aufgewachsen. Mensch zu sein ist leicht. Man isst, trinkt, freut sich. Wenn einer keine Verbindung zu Gott hat, ist das für ihn in Ordnung. Aber was bedeutet es, Jude zu sein? Für jemanden, der im Holocaust war, ist das keine Frage. Aber ich war weit weg davon. Ich habe in vielen Kriegen gegen die Araber gekämpft und gewonnen. Für mich war es leicht, einfach Israeli zu sein, aber Jude?“

„Der Holocaust beweist Gottes Existenz“

Das Studium der Torah brachte den heute 70-Jährigen zu der Erkenntnis: „Richtig Jude sein zu wollen, ist echte Arbeit, weil ein Jude die Existenz Gottes in dieser Welt repräsentiert.“ Einen Beweis für das Dasein Gottes findet Jechiel auch im dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte: Der Scho‘ah. „Der Holocaust ist der Beweis dafür, dass es Gott gibt – das genaue Gegenteil von dem, was viele Menschen denken.“ Jechiel und seine Familie selbst waren nicht vom Holocaust betroffen. Ihre Wurzeln liegen in der Ukraine. Leas Eltern lebten hingegen in Deutschland. Ihnen gelang rechtzeitig die Flucht ins damalige Mandatsgebiet Palästina. Mit Freude zeigt uns Lea einen Sederteller, auf dem traditionelle Speisen während des jüdischen Pessachfestes serviert werden. Er gehört zu den wenigen Habseligkeiten, die ihre Eltern aus Köln mitnehmen konnten. Jechiels Anmerkung über Gottes Dasein im Holocaust steht noch im Raum. Er erklärt sie uns anhand des Pessachfestes. Während dieser Zeit dürfen Juden nichts Gesäuertes, „Chametz“, essen oder im Haus haben. Traditionell werden Matzen gegessen – ungesäuerte, Knäckebrot-ähnliche Backwaren. „Chametz steht für Sünde“, erklärt Jechiel. „Wir alle haben Chametz in uns und müssen es nicht nur aus unserem Haus entfernen, sondern auch aus unserer Seele.“ Er ergänzt: „Die Matzen sind ganz flach. Sie bedeuten: ‚Ich bin nichts‘. Das gesäuerte Brot dagegen ist groß. Es steht für Sünde, Stolz, Arroganz, die Vorstellung ‚ich bin der Größte‘.“ Er macht eine Pause und fährt dann nachdenklich fort: „Aber wer bist du tatsächlich, wenn du vor Gott stehst? Ein großes Nichts! Die Matze bedeutet also, dir deiner Arroganz bewusst zu werden. Indem du das tust, entfernst du das Chametz in dir.“ „Gott ist allmächtig. Er ist der König der Könige! Niemand kann etwas gegen ihn unternehmen. Auch nicht die Deutschen. Sie konnten den Holocaust nur verüben, weil Gott das zugelassen hat“, meint Jechiel. Das jüdische Volk muss sich seiner Ansicht nach der Frage stellen, warum Gott diese Bestrafung zugelassen habe. Worauf er gleich selbst antwortet: „Weil wir zu stolz waren. Weil wir zu sehr geglaubt haben, dass wir jemand sind – anstatt demütig zu sein. Indem wir uns von allem Stolz lösen, kann Gott mit uns sein. Nur so werden wir ihn repräsentieren, denn er ist derjenige, der alles tut. Wenn wir aber hochmütig meinen, wir Juden und unser Staat Israel sind etwas, wir haben eine starke Armee, dann werden viele Probleme kommen. Die ganzen Spannungen in der Welt gibt es nur, weil wir Juden uns nicht richtig verhalten. Wir müssen dafür beten, dass unser arrogantes Denken verändert wird. Wenn nicht“, er nickt nachdenklich und erklärt dann mehrdeutig: „Jeder, der die Torah genauer kennt, weiß, dass ein großer Krieg kommen wird …“

„Wenn du schlechten Wein suchst, musst du nach Israel gehen!“

Im Alter von 40 Jahren war Jechiel als Luftfahrtingenieur im Ausland, in Frankreich, tätig. „Ein Franzose putzt sich die Zähne mit Wein. Und ich war ein richtiger Franzose. Ich habe viel Wein und Bier getrunken.“ Nach seiner Rückkehr nach Israel stellte er fest: „Der Wein in Israel ist richtig schlecht. Nicht schlecht, sondern sehr schlecht! Wenn du schlechten Wein suchst, musst du nach Israel gehen.“ Deshalb hörte Jechiel auf, Wein zu trinken. Die koscheren Weine in seinem Land waren ihm zu süß oder zu sauer. Aber er wollte den Schabbat halten und brauchte Wein, um den Segen darüber zu sprechen. „Wir haben damals den Rabbi um Erlaubnis gefragt, ob wir diesen Essig zum Segen benutzen können und er hat es genehmigt. Es war zwar schlechter Wein, aber es war immer noch Wein“, erinnert sich Jechiel. In den vergangenen drei Jahrzehnten hat in Israel eine Revolution der Weinproduktion stattgefunden. Das Land hat sich einen Namen gemacht und israelische Weine wurden international ausgezeichnet. Jechiel Jaschfe ist Teil dieser Entwicklung. Der Besuch bei einem Freund führte dazu, dass der Luftwaffeningenieur unter die Winzer ging. Sein Freund servierte koscheren Wein, der Jechiel schmeckte. Doch diesen edlen Tropfen gab es nicht zu kaufen. „Er hat ihn selbst hergestellt und mir erklärt, wie es funktioniert“, erzählt Jechiel. „Du musst Trauben stampfen, den Saft in einen Tonkrug geben, 40 Tage warten, und dann hast du Wein.“ Bei dieser simplen Herstellungsmethode kommen keine technischen Raffinessen zum Einsatz. Dem Wein werden weder Hefe noch Sulfite zugefügt. Die Produktion erfolgt auf ganz natürliche Weise – so wie bei Noah, der in der Bibel als erster Winzer gilt. Durch das Studium der Torah und der Kabbalah kam Jechiel zu dem Ergebnis, dass nur ein guter Jude guten Wein herstellen kann. „Ich habe in der Bibel gelesen, dass Gott die Arbeit eines Mannes prüft. Er prüft, ob er es ernst meint.“ Er ist überzeugt: Wenn sein Freund guten Wein herstellen kann, muss er ein guter Jude sein. „Beides gehört zusammen.“ 1998 begann Jechiel schließlich, es selbst mit der Weinherstellung zu versuchen. „Und es hat funktioniert. Der Wein war gut. Ich habe das getan, um mich zu prüfen und um guten Wein zum Trinken zu bekommen. Wenn ich also kein guter Jude gewesen wäre, hätte ich Essig produziert.“ Einen eigenen Weinberg besitzt Jaschfe nicht. Er kauft die Trauben von einem befreundeten Winzer. Damit die natürlichen Hefen an den Oberflächen nicht zerstört werden, dürfen die Früchte nicht gewaschen werden. Noch einmal macht Jechiel einen Ausflug in die Kabbalah: Der Hefe schreibt er besondere Fähigkeiten zu. Sie sei wie ein Lebewesen und könne die Seele desjenigen fühlen, der den Wein herstellt oder trinkt. „Trinkt ein Jude, der sich rechtschaffen verhält, von dem Wein, wird der Wein ein guter bleiben. Wenn aber ein nichtreligiöser oder arroganter Jude, ein Angeber, davon trinkt, wird der Wein zu Essig. Wenn aber dieser Wein wieder zu einem guten Juden kommt, dann wird er sich wieder verändern – von Essig in einen guten Wein. Ich habe das selbst viele Male erlebt, hier in diesem Haus und in anderen. Das ist die Wahrheit!“

Demütig wie ein Tongefäß

Bei der Weinherstellung erhält Jechiel Hilfe von seinen beiden Söhnen und einigen religiösen Juden, die bei ihm etwas über die Torah und Kabbalah lernen. „Wir stampfen acht Stunden lang, singen dabei und blasen das Schofar-Horn. Du musst sehr tief in dich gehen und fröhlich sein.“ Den ersten eigenen Wein haben die Männer in Jechiels Haus hergestellt. „Wir haben 800 Tonnen Trauben gestampft, von acht Uhr abends bis acht Uhr morgens. Das war für meine Frau nicht leicht – sie musste ja hinterher alles sauber machen.“ Mittlerweile stampfen sie die Trauben in einem anderen Gebäude. Nach dem Stampfen lagert der Most 40 Tage in Tongefäßen oder Eichenfässern. Dann wird der Wein in Flaschen oder in Krüge aus Ton gefüllt. „Der Wein im Tonkrug hält viel länger als in einer Glasflasche. Ich kann das Gefäß immer wieder öffnen und Wein ausschenken, er hält bis zu einem Jahr und wird nicht sauer. Wenn man ihn in einer Glasflasche aufbewahrt und immer wieder öffnet, hält mein Wein etwa zwei bis drei Wochen. Mancher Wein hält so nur zwei, drei Tage.“ „Nicht anfassen“, ermahnt uns Jechiel, während er mehrere Weinflaschen auf den Tisch stellt. „Wenn Nichtjuden diese Glasflaschen berühren, wird der Wein darin sauer.“ Zu den Flaschen stellt er einen Tonkrug. „Den dürft ihr berühren, in einem Tongefäß ist der Wein geschützt und kann durch die Berührung nicht unrein werden.“ Jechiel erklärt: „Dieser Wein ist in seiner Herstellung ganz natürlich. Er wurde von religiösen Juden produziert, ihm wurde nichts hinzugefügt. Wenn er in ein Tongefäß gefüllt wird, kann er so im Tempel verwendet werden. Wenn wir den Tempel wieder aufbauen, könnten wir ihn benutzen.“ Wir probieren einen Chardonnay, einen Merlot und einen Cabernet Sauvignon. „Le Chaim, le chaim, le chaim“, ruft Jechiel jedes Mal fröhlich, „auf das Leben“. Der Chardonnay ist uns zu sauer – möglicherweise hat ein Nichtjude die Flasche berührt. Aber Merlot und Cabernet Sauvignon sind außergewöhnlich gut. Samtig weich duften die Weine ausschließlich nach Trauben. Die im Tongefäß gereiften Weine schmecken uns noch besser als die Tropfen aus dem Eichenfass. Keine anderen Aromen mischen sich mit denen der Früchte. Die Erklärung dafür leitet Jechiel aus der Bibel und der Kabbalah ab: „Wein selbst ist sehr arrogant. Er wird besser, wenn er in ein einfaches Gefäß gegeben wird. So wird verhindert, dass er stolz wird.“ Womit Jechiel wieder auf die Antwort auf seine ursprüngliche Frage zurückkommt: „Jude zu sein bedeutet, ein Tongefäß zu sein. Demütig!“ Aktuell produziert die „Jaschfe Winzerei“ 5.000 Flaschen Wein pro Jahr. Der Verkauf erfolgt über persönliche Kontakte. Die Kunden kommen hauptsächlich aus Israel, aber auch aus den USA, den Niederlanden und Deutschland. (dn) Den Artikel „Von Wein und Demut“ finden Sie auch in der Ausgabe 3/2015 des „Israelnetz Magazins“. Sie können die Zeitschrift kostenlos und unverbindlich bestellen unter der Telefonnummer 06441/915151 oder via E-Mail an info@israelnetz.com oder online unter www.israelnetz.com.

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