Ehud Olmert steht offensichtlich unter Zeitdruck. Anders ist es nicht zu erklären, dass er „Volldampf voraus“ anordnet, noch bevor sich der Nebel der Kampfhandlungen aufgelöst hat. Zu Beginn der vorletzten Novemberwoche hatte sich der israelische Regierungschef zum Leidwesen der linksliberalen israelischen Tageszeitung „Ha´aretz“ noch als vollkommen resistent gegen jeden Druck in Richtung einer neuen palästinensisch-israelischen Friedensinitiative gegeben. Genau eine Woche später spekuliert dieselbe Zeitung über einen Olmert-Abbas-Rice-Gipfel und bejubelt die Rede des Premierministers zum 33. Todestag des Staatsgründers David Ben Gurion als „klare politische Strategie“.
Fast verzweifelt scheint der israelische Regierungschef den Stier bei den Hörnern packen zu wollen und versucht, den wackeligen Gaza-Waffenstillstand in eine diplomatische Initiative zu verwandeln. Er streckt, wie schon David Ben Gurion , seinen arabischen Nachbarn „die Hand zum Frieden“ hin – und hofft, dass sie angenommen wird. Er betont, wie schon David Ben Gurion vor mehr als einem halben Jahrhundert, dass dem jüdischen Volk eine solide jüdische Mehrheit im Staat Israel wichtiger ist, als die Unversehrtheit des verheißenen Landes.
Dann fordert er von den Palästinensern die „Prinzipien des Quartetts“ (das heißt, den Gewaltverzicht, die Anerkennung Israels und aller alten israelisch-palästinensischen Verträge) und die „Roadmap“ (deren Vorbedingung die Entwaffnung aller palästinensischen Terror-Organisationen ist) anzuerkennen, den entführten Soldaten Gilad Schalit freizulassen und das so genannte „Recht auf Rückkehr“ (aller palästinensischen Flüchtlinge in das Staatsgebiet Israels) aufzugeben.
Dafür verspricht Ehud Olmert seinen palästinensischen Nachbarn einen „unabhängigen und lebensfähigen Staat“ „mit territorialer Einheit in Judäa und Samaria“ – was für Israel ausdrücklich „einen Rückzug aus weit reichenden Gebieten und eine Räumung von Siedlungen“ bedeutet. Für Gilat Schalit sollen zahlreiche palästinensische Gefangene, darunter „solche mit langen Haftstrafen“, freigelassen werden. Er verheißt den bedrängten Palästinensern weniger Straßensperren und mehr Bewegungsfreiheit, offenere Grenzen und Hilfe bei der Verbesserung der humanitären Notlage.
Und um seinem Angebot Nachdruck zu verleihen, zeigt der Scharon-Nachfolger die Muskeln: „Der Staat Israel ist stark.“ „Lasst Euch nicht von unseren internen Differenzen, unseren politischen Rivalitäten und der Weltuntergangsstimmung, die wir manchmal projizieren, täuschen.“ „Eine gewalttätige Schlacht werden wir gewinnen!“ Und: „Testet uns nicht noch einmal. Das wird nur viele Opfer und Zerstörung hervorbringen und zu einem totalen Leiden und Härten führen“, ruft Olmert seinen potentiellen Verhandlungspartnern zu.
Doch was ist an dieser israelischen Absichtserklärung neu? – Abgesehen vielleicht von dem dramatischen Rahmen am Grabe des Vaters des modernen Staates Israel und der damit verbundenen unausgesprochenen Beteuerung: Was ich hier sage, sagen wir seit 1948! Ein Zeitungskommentator bezeichnet die Rede als „alten Wein in neuen Schläuchen“. Und der Verweis auf George Bushs Brief vom April 2004 im Zusammenhang mit den künftigen Grenzen der beiden Staaten Israel und Palästina darf im besten Falle als Bekenntnis zur der Zweideutigkeit gewertet werden, die die meisten diplomatischen Verlautbarungen zum Nahostkonflikt kennzeichnen und sich nur zu oft als Nährboden für Streit und Blutvergießen erwiesen haben.
Neu ist die atemberaubende Einsicht des Vaters aller einseitigen Trennungspläne: „Diktate sind sinnlos!“ Doch damit kehrt Ehud Olmert in die Zeit vor Ariel Scharon zurück, mit dem entscheidenden Unterschied, dass er den Palästinensern sagt: Wenn ihr nicht mitmacht, wissen wir auch nicht mehr weiter. Denn das Druckmittel Scharons, sich notfalls einseitig von den ungeliebten Nächsten loszumauern, hat nicht funktioniert. Somit macht der Scharon-Erbe den Palästinensern genau das Angebot, das Jasser Arafat im Sommer 2000 in Camp David ausgeschlagen hat, um sechs Jahre von furchtbarem Blutvergießen folgen zu lassen.
Vielleicht aber ist das, was Ehud Olmert nicht erwähnt hat, viel interessanter als das, was er gesagt hat. Jerusalem, beispielsweise, taucht in seiner Rede am Grabe Ben Gurions überhaupt nicht auf. Damit klammert er aber genau den Punkt aus, der nach Aussage von Insidern der Grund dafür war, dass die Clinton-Barak-Arafat-Verhandlungen im Juli 2000 scheiterten, „als wir so nah wie noch nie an einem Friedensabkommen waren“.
Und dann fehlt auch der Libanonkrieg in Olmerts Rede, so als habe es ihn nie gegeben. Als hätte Scheich Hassan Nasrallah nie eine Million Israelis einen Monat lang in die Bunker gescheucht. Als wäre er kein Nationalheld auf den palästinensischen Straßen und hätte nie einen „himmlischen Sieg“ mit Hunderttausenden auf den Straßen von Beirut gefeiert. Das Schlamassel vom Sommer 2006 ist so abwesend, als hätte es nie einen Einfluss aus noch ein Problem mit Damaskus und Teheran gegeben.
Bemerkenswert ist allerdings, dass Ehud Olmert Saudi-Arabien und die Golfstaaten ausdrücklich unter den Staaten nennt, die sich um eine friedliche Lösung des Konflikts bemühen. Soll das etwa als Ja zur Initiative der Saudis im Jahre 2002 auf dem Gipfel der Arabischen Liga in Beirut verstanden werden? In jedem Falle ist es eine Abweichung von der traditionellen israelischen Einstellung, sich lediglich auf bilaterale Verhandlungen allein mit den Palästinensern einlassen zu wollen. Und vielleicht ist es nicht so sehr die Beteiligung der arabischen Staaten, auf die Olmert hofft, als der wachsende Einfluss der Europäer und de Zugzwang der Amerikaner, die er fürchtet.
Die palästinensischen Reaktionen auf den programmatischen Vorstoß und die „zum Frieden ausgestreckte Hand“ des israelischen Regierungschefs sind zurückhaltend. Rasi Hamad, Sprecher der Hamas-Regierung, tut sie als „neues Manöver“ ab. Und der Sprecher von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, Nabil Abu Rudeine, meint: „Taten, nicht Worte, sind jetzt gefragt!“, um dann gleich den demografischen Albtraum der Israelis neu zu beleben und das palästinensische Recht auf Rückkehr einzufordern.
Auch der Vater des entführten Soldaten Gilad Schalit, Noam Schalit, will „Taten, nicht Worte“ sehen und zeigt sich ansonsten äußerst wortkarg. Rechts-konservative Vertreter in Israel greifen besonders Olmerts Versprechen an, „viele Siedlungen“ zu räumen und fordern Sicherheit, bevor irgendwelche weitergehenden Versprechungen gemacht werden. Der national-religiöse Rabbi Benni Elon von der Nationalen Union wirft dem Premier vor, die Bürger zu täuschen und bezeichnet sein Verhalten als „existentielles Risiko“. Sein Parteifreund Arie Eldad meint, die Palästinenser würden zum jetzigen Zeitpunkt einen unabhängigen Palästinenserstaat als „Kapitulation vor dem Terror“ betrachten.
Der Likud-Abgeordnete Juval Steinitz bewertet die Olmert-Rede gar als Bestätigung für den „militärischen und diplomatischen Sieg der Hamas“. Seiner Ansicht nach benötigt die Hamas aus zwei Gründen eine Waffenruhe und eine diplomatische Initiative der Israelis: Erstens, um die Legitimität der neuen palästinensischen Einheitsregierung, die bald unter Hamas-Führung entstehen wird, zu zementieren. Zweitens bewahrt diese Ruhepause die Hamas vor den vernichtenden Folgen eines israelischen Einmarschs im Gazastreifen, den so viele Militärs gefordert hatten, und ermöglicht ihr, sich auf diese Eventualität in der Zukunft besser vorzubereiten.
Fest steht also nur, dass Ehud Olmert beweisen wollte, dass er in aussichtsloser Lage ein Programm hat. Er hat der internationalen Gemeinschaft gezeigt, dass er zu Verhandlungen bereit ist. Jetzt ist der „Ball“ auf der Seite der Palästinenser. Selbst die Tageszeitung „Ha´aretz“, die sonst reflexhaft die Schuld auf der eigenen Seite sucht, weiß nichts Besseres zu schreiben, als: „Jetzt liegt es an den Palästinensern und ihren Freunden in der arabischen Welt, die Herausforderung des Premierministers anzunehmen und am Verhandlungstisch zu erscheinen.“ Doch genau da liegt der Hase im Pfeffer: Die Umsetzung der Olmert-Vision liegt nicht in der Macht Israels, sondern einzig und allein bei den Palästinensern. Und warum sollten die Palästinenser jetzt plötzlich dazu bereit sein, die uralten Forderungen Israels zu akzeptieren?