Suche
Close this search box.

Unerträglicher Zustand: Zur Lage um den Gazastreifen

„Entweder die Hamas geht unter, oder die Koalition“. Kabinettsminister Avigdor Lieberman nimmt kein Blatt vor den Mund – auch wenn er sich wenige Stunden später mäßigt. Doch die Stimmung in Israel ist gespannt. Seitdem am 15. April 2001 die erste Kassam-Rakete auf Sderot gefallen ist, hat man in der Stadt mehr als 400 Raketeneinschläge registriert. Auf die an den Gazastreifen angrenzenden Dörfer und in die Felder sind im selben Zeitraum mehr als 5.000 dieser Geschosse eingeschlagen, die ein Sicherheitsexperte als „statistische Waffen“ einstuft – das heißt, man kann mit ihnen kaum zielen, sondern sie treffen eben nach statistischer Wahrscheinlichkeit. Immerhin haben sie bislang in Sderot sieben Todesopfer gefordert. Mehr als 400 Menschen wurden verletzt. 1.400 Objekte wurden in der Stadt getroffen, wobei ein Sachschaden von umgerechnet mehr als 4,2 Millionen Euro entstanden ist. Die Immobilienpreise sind um etwa 40 Prozent gefallen.

Tausende von Bürgern aus Sderot haben ihre Häuser – wenigstens zeitweise – verlassen, um wenigstens ein Wochenende ausschlafen zu können. Der russisch-stämmige Milliardär Arkadi Gaydamak, der lieber Englisch als Hebräisch gelernt hat, scheint es regelrecht zu genießen, der Regierung einen Nasenstüber nach dem andern zu versetzen, indem er großzügig und bürgernah kostenlosen Urlaub an kriegsgeplagte Israelis verschenkt oder aber den Bau von Schutzräumen in Angriff nehmen will. Nachdem die Regierung anfangs noch Durchhalteparolen verbreitet hat, bietet mittlerweile auch das Verteidigungsministerium Kriegsurlaub in Soldatengenesungsheimen.

Ein Schock-Trauma-Zentrum in Sderot behandelt etwa 1.000 Schock-Patienten, wobei die leitende Ärztin, Dr. Adriana Katz, davon ausgeht, dass viele, die unter Schock leiden, gar nicht in Behandlung kommen. An die Bilder von hysterisch schreienden Menschen, die das israelische Fernsehen jeden Abend sendet, scheint sich die israelische Gesellschaft langsam zu gewöhnen. Diejenigen, bei denen sich der Schock oder die Panik weniger spektakulär, beispielsweise in Depressionen, äußert, werden kaum mehr wahrgenommen. Der Chef der psychiatrischen Abteilung des Barsilai-Krankenhauses, Gabi Schreiber, erklärt, dass zu den Schock-Symptomen ein ausgetrockneter Mund, Herzrasen, eingeschlafene Gliedmaßen, das Gefühl, das Bewusstsein zu verlieren, Lähmungserscheinungen oder auch emotionale Abwesenheit gehören. Adriana Katz diagnostizierte auch einen Verlust an Realitätssinn, Zittern, Schreien und Kreischen. Die Folgen sind oft monatelang spürbar.

„Warum“, so fragen Israelis, „werden viel weniger oder manchmal gar keine Bilder aus Sderot gezeigt – dafür aber alle Zerstörungen der israelischen Armee im benachbarten Gazastreifen?“ Die Antwort westlicher Journalisten ist einfach und einleuchtend: „It’s not bloody enough“ – „Es fließt nicht genug Blut“. Dabei könnte sehr viel mehr Blut fließen und die Einwohner von Sderot zählen die Wunder. Wenn beispielsweise eine Schulklasse zufällig ihr Klassenzimmer verlässt, kurz bevor eine Rakete einschlägt. Zu den Jugendlichen, die sich in dem verwüsteten Unterrichtsraum gerade auf das Abitur vorbereitet hatten, gehört übrigens der jüngste Sohn von Verteidigungsminister Amir Peretz. Oder die Überwachungskamera einer Tankstelle zeichnet auf, wie ein großer Tanklaster den Ort verlässt, der Raketenalarm ausgelöst wird, ein Auto schnell noch Schutz unter dem Dach der Tankstelle sucht, bevor eine Rakete genau an der Stelle einschlägt, an der wenige Sekunden zuvor noch der Gefahrguttransport gestanden hatte.

Es sind die Bewahrungswunder, die Israels schlechtes Image unterstreichen, und durch die Flucht der Bürger von Sderot, die über die israelischen Medien natürlich auch in den Gazastreifen übertragen wird, sieht sich die Hamas offensichtlich bestätigt. Hamasführer Nizan Riyan erklärt, es sei „definitiv entschieden, Israel von der Landkarte zu wischen und durch einen Palästinenserstaat zu ersetzen“. Gleichzeitig fordert er seine Kämpfer auf, „Aschkelon zu bombardieren, bis dessen Bürger fliehen, wie die Leute aus Sderot“.

Bei alledem herrscht im Gazastreifen das helle Chaos. Die Fatah, die bestimmende Fraktion innerhalb der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO, mit der Israel alle Verträge geschlossen hat, steht vor dem Aus. Mohammed Dahlan, der einst starke Mann der Fatah im Gazastreifen, ist im Ausland. Sein Vertreter Raschid Abu Schbak, der zurzeit als Chef des Preventive Security Service fungiert, muss hilflos hinnehmen, wie vier seiner Leibwächter ermordet werden, während seine Frau und seine Kinder alleine zuhause sind. Und Palästinenserpräsident Mahmud Abbas traut sich aus Sicherheitsgründen nicht mehr, den Gazastreifen zu betreten.

Auch die politische Führung der Hamas, allen voran Premierminister Ismail Hanije, scheinen machtlos. Der eigentliche Drahtzieher, so vermutet das israelische Fernsehen, ist Ahmed Al-Dschabari, der Chef des militärischen Flügels der Hamas. Er nimmt seine Order nicht etwa von der gewählten politischen Führung der Palästinenser entgegen, die immerhin mit überwältigender Mehrheit von der Hamas dominiert wird, sondern vermutlich direkt aus Damaskus, von dem dort amtierenden Politbüro-Chef der Hamas, Chaled Mascha´al.

Die Fatah-Führung scheint verstanden zu haben, dass sie durch die gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Hamas vor allem das Ansehen in der Bevölkerung verliert. Der palästinensische Analytiker Hani al-Masri meint: „Die Bevölkerung akzeptiert es nicht, wenn Prediger, Lehrer oder Geschäftsleute angegriffen werden.“ Deshalb scheint es den radikalen Organisationen auch nicht schwer gefallen zu sein, durch den Raketenbeschuss die Aufmerksamkeit auf den eigentlichen Feind Israel zu lenken und so die Kämpfenden wenigstens kurzfristig zu einen. Die Reaktion der israelischen Armee hat die Absicht der Hamas unterstützt.

Täglich fallen Dutzende von Kassam-Raketen auf Sderot und die umliegenden Ortschaften. Die Armee befürchtet, die Hamas bereite weitere Entführungen von Israelis vor. Der Palästinensische Islamische Dschihad verkündet, dass Dutzende von Selbstmordattentäterinnen den Einmarsch der israelischen Armee im Gazastreifen erwarten. Spekulationen darüber, wie weit die Raketen der Hamas tatsächlich kommen könnten, sind allgegenwärtig. Israelische Medien überlegen, welche direkten Auswirkungen die Eskalationen auf das Wohlergehen des seit fast einem Jahr entführten israelischen Soldaten Gilad Schalit haben könnten.

Seit langem werden von Militärexperten und solchen, die es gerne wären, alle Optionen
durchdiskutiert: Die Besetzung des Gazastreifens oder einzelner Bereiche, die Rückeroberung der so genannten „Philadelphi-Linie“, das heißt, der Grenze zwischen dem Gazastreifen und Ägypten, die Möglichkeiten, den Gazastreifen tatsächlich zu isolieren und beispielsweise die lebensnotwendigen Lieferungen von Strom, Wasser und Lebensmitteln aus Israel einzustellen. Man fragt sich auch, welche langfristigen Folgen es hätte, wenn Israel die Streitkräfte von Präsident Abbas weiter aufrüstete oder gar den Sturz der Hamas-Regierung aktiv vorantriebe.

Offiziell hat jetzt die israelische Regierung die Wiederaufnahme der gezielten Liquidierungen von Hamas-Führern beschlossen. Dabei sind weder Hamas-Politbürochef Chaled Mascha´al in Damaskus noch der palästinensische Premierminister Ismail Hanije ausgeschlossen, meint Israels Minister für innere Sicherheit, der ehemalige Geheimdienstchef Avi Dichter. Kein Ziel, das mit dem Raketenbeschuss von israelischen Städten und Dörfern in Verbindung gebracht wird, ist mehr immun: Raketenabschuss-Kommandos, Fahrzeuge, die Raketen und Kämpfer transportieren, Werkstätten, in denen Raketen hergestellt werden.

Zivile Opfer sind unvermeidlich, weil die palästinensischen Terrorgruppen aus der Zivilbevölkerung heraus operieren, warnen israelische Sicherheitsexperten. Die Hamas heult derweil in westliche Kameras, die Zivilbevölkerung sei gefährdet, während sie andererseits die eigenen Kämpfer ermutigt, alles anzugreifen, was israelisch ist. Täglich informieren „israelische Sicherheitskreise“ Journalisten über die angegriffenen Ziele und ihre Erfolge. Meist sind innerhalb kürzester Zeit die Namen der Getroffenen bekannt – und werden auch von palästinensischer Seite bestätigt.

Die israelische Regierung hat nach mehr als fünf Jahren Raketenbeschuss auf Sderot eine „Ausnahmesituation“ für die Ortschaften um den Gazastreifen herum beschlossen. Was das konkret bedeutet, ist den wenigsten Betroffenen klar. „Dass wir in einer ‚Ausnahmesituation‘ leben, ist uns schon lange klar“, meint ein Israeli, „gut ist, dass die Regierung das jetzt auch anfängt zu begreifen.“ In erster Linie wird durch diese Anordnung die Entscheidungsbefugnis beispielsweise über die Schließung von öffentlichen Einrichtungen von kommunaler auf die militärische Ebene verlagert. Wie weit sich dies auf finanzielle Kompensationen oder den Ausbau von Schutzräumen auswirkt, wie von Premier Olmert versprochen, bleibt abzuwarten. Verteidigungsminister Amir Peretz, der selbst mit seiner Familie in Sderot wohnt, hat wenig Hoffnung, dass sich der Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen schnell und effektiv beenden lässt.

(Foto: Johannes Gerloff)

Bitte beachten Sie unsere Kommentar-Richtlinien

Schreiben Sie einen Kommentar

Offline, Inhalt evtl. nicht aktuell

Israelnetz-App installieren
und nichts mehr verpassen

So geht's:

1.  Auf „Teilen“ tippen
2. „Zum Home-Bildschirm“ wählen