Türkisches Großmachtstreben mit Drohgebärden gegen Israel

Vor mehr als hundert Jahren war das in Europa ein stehender Begriff: Der kranke Mann am Bosporus. Gemeint war damals der Zustand des türkisch-osmanischen Großreiches. Ein Kommentar zur aktuellen Situation.

Jahrhunderte hatte ein Sultan von Istanbul aus den ganzen Orient und das halbe Europa beherrscht. Eine schlagkräftige Militärmacht garantierte den Bestand des Reiches und sorgte mit immer neuen Eroberungen für den Reichtum der Osmanen. Doch bereits im 18. Jahrhundert wurde der Anschluss an die Entwicklung des modernen Europa verpasst. In Westeuropa schufen wissenschaftliche Entdeckungen die Grundlage für neue Techniken und die industrielle Produktion, schließlich die Ausrüstung für modernes Militär. Die Osmanen bestellten Güter und Material in Europa und zahlten zunehmend mit Krediten aus Europa. Der kranke Mann am Bosporus lag im Sterben.

Geschlagen im Ersten Weltkrieg verloren die Türken ihre Vorherrschaft im Orient und damit den Großmacht-Status. In den zwanziger Jahren setze die neu konstituierte Türkei zum Sprung in die westliche Moderne an, Höhepunkt der Entwicklung war die offizielle Abschaffung des Kalifats 1924. Die unter dem Staatslenker Attatürk begonnene Hinwendung zum Westen gipfelte im Streben nach der Mitgliedschaft in der EU.

Lautstarkes "Beschwören" islamischer Brüderlichkeit

Und nun? Nun strebt die Türkei unter dem Premierminister Recep Tayyip Erdogan zugleich ein neues Ziel an: den Nahen Osten. Noch mehr: Islamische Parteien und Personen prägen die Türkei von heute. Kopftücher gehören wie nie zuvor zum Straßenbild. Beim Staatsbesuch des deutschen Bundespräsidenten Christian Wulff trug Hayrünnisa Gül, Frau des türkischen Präsidenten, streng gebunden ihr Tuch auf dem Kopf.

Im Januar 2011 reiste der Premierminister Recep Tayyip Erdogan an der Spitze einer hochkarätigen Delegation durch die arabischen Staaten am Golf. Aufhorchen ließen die an die Araber gerichteten Botschaften, die sicher die ganze Welt hören sollte. Danach gehe es im Verhältnis zur arabischen Welt jetzt darum, die Streitigkeiten des 19. und 20. Jahrhunderts zu beenden. Damals hatten sich viele arabische Stämme im Bündnis mit Engländern und Franzosen gegen die Türken erhoben. Künftig soll im Rückgriff auf die große gemeinsame Vergangenheit von Türken und Arabern in den Jahrhunderten zuvor ein neues Kapitel geöffnet werden. Erdogan erklärte, dass die "1.000-jährige Brüderlichkeit" zu neuem Leben erweckt werden solle, um eine "politische, wirtschaftliche und kulturelle Union" zu werden. Und er fügte hinzu: "Wir sind Angehörige derselben Zivilisation." Und: "Die Araber sind unsere Brüder und Schwestern." Bewirbt sich Erdogan damit um die Führerschaft in der islamischen Welt sunnitischer Prägung? Die Emirate am Golf und selbst das mächtige Saudi-Arabien schauen mit Sorge auf den schiitisch geprägten Iran und dessen militärische Aufrüstung und den damit verbundenen Anspruch auf die Vorherrschaft im Orient. Eine mächtige Türkei im Rücken würde die Araber entlang der sunnitisch-schiitischen Bruchlinie stärken und den Persern ein Gegengewicht bieten.

Provozierendes "Säbelrasseln" gegen Israel

Und schließlich: Was bedeutet es für Israel, wenn der türkische Premierminister außerdem im Januar sagte: "Ebenso, als die Kinder von Gaza massakriert wurden, spürten wir ihren Schmerz, als ob unsere eigenen Kinder massakriert würden. Gazas Problem ist unser Problem. Jerusalems Problem ist unser Problem"? Die gute Zeit israelisch-türkischer Zusammenarbeit erscheint im Licht solcher Worte als weit zurückliegende Periode. Schon Ende Januar 2009, als Erdogan beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos wütend eine Gesprächsrunde mit dem israelischen Präsidenten Peres verließ, knackte es für alle offensichtlich im Gebälk der Beziehungen.

Kürzlich wurden die diplomatischen und militärischen Kontakte seitens der Türkei minimiert. Ein offener Bruch mit Israel. Hintergrund ist die UN-Stellungnahme zu den Ereignissen um das Schiff "Mavi Marmara" im Mai 2010. Der Bericht löste eine neue Welle türkischer Erklärungen gegen Israel aus, gefolgt von der Drohung, eine nächste "Gaza-Hilfsflotte" mit Kriegsschiffen zu begleiten und zu beschützen. Will die Türkei eine gerade von der UNO für rechtmäßig erklärte Blockade des Gazastreifens militärisch durchbrechen und eine direkte Konfrontation mit der israelischen Marine provozieren? In einem Coup hatte Erdogan vor Monaten die militärische Führung in weiten Teilen ausgetauscht und mit Personen seines Gefallens besetzt und so in seinem Sinne diszipliniert.

Gewiss, mit markigen Sprüchen und Aktionen gegen Israel lässt sich in der arabischen Welt punkten. Gerade die Umbrüche im Orient mit der Entmachtung bisheriger Machthaber in Ägypten und Libyen, die auf ihre Weise für politische Stabilität gesorgt hatten, öffnen der Türkei neue Türen für eine Führungsrolle. Alle anderen Staaten sind derzeit weg vom Fenster. Der Anspruch wird aktuell untermauert, indem nach den historischen Gemeinsamkeiten mit dem Bekenntnis zum Islam der Staat Israel zum gemeinsamen Gegner erklärt wird. So können sich die neuen Regierungen in den Umbruchstaaten und das Volk auf der Straße durch die türkischen Drohgebärden in ihrer Haltung und dem Terror gegen Israel ermutigt fühlen. Die Stürmung der israelischen Botschaft in Kairo, die aufgeheizten Sprüche der Palästinenser im Vorfeld der UN-Versammlung, werden nun noch übertönt durch türkisches "Säbelrasseln". Muss man fortan den "kranken Mann am Bosporus" ganz neu verstehen? Größenwahn ist eine gefährliche Krankheit für den Betroffenen und leider auch für alle Umstehenden.

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