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„Tefilin“ – Zeichen auf der Hand und zwischen den Augen

Ein orthodoxer Jude muss 613 Vorschriften einhalten. Manche sind Gebote, die er tun soll, andere Verbote, die das bezeichnen, was er zu lassen hat. Einige dieser Gesetze haben eine größere Bedeutung als andere, je nachdem, welche Stellung ihnen die Bibel zumisst.

Chaim Reichmann arbeitet in dem Jerusalemer Betrieb „Oter Israel“, der Gebetsriemen herstellt. Einer Schulklasse von nicht-religiösen Juden erklärt er, wie wichtig die Gebote für die Existenz des jüdischen Volkes sind. Große Imperien wie das der Römer, der Griechen oder der Sowjets sind verschwunden, während das jüdische Volk seine Identität erhalten hat.

Die Beziehung zwischen Volk, Land und Torah ist lebenswichtig für die Juden. Deshalb hätten die Heiden, so Reichmann, in ihrem Bestreben die Juden zu vernichten, immer wieder versucht, das Volk entweder vom Land oder von der Torah zu trennen. Andererseits haben sich die Juden assimiliert und damit in ihrem heidnischen Umfeld aufgelöst, wenn sie die Bedeutung der Gebote aus den Augen verloren haben. Jedes Jahr gehen so allein in den Vereinigten Staaten dem jüdischen Volk zwischen 50.000 und 60.000 Menschen verloren.

Als die Griechen im zweiten Jahrhundert vor der Zeitrechnung den Juden verboten, die Torah – die fünf Bücher Mose – zu lesen, haben diese stattdessen die beiden nachfolgenden Teile des heute von Christen so genannten „Alten Testaments“ gelesen, die „Propheten“ und die „Schriften“. So entstand die „Haftarah“-Ordnung, der Zyklus der Wochenabschnitte, die heute im Synagogengottesdienst zusätzlich zu einem festen Abschnitt aus der Torah – auf hebräisch „Paraschah“ – jede Woche verlesen werden.

„Du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand“

Chaim Reichmann erklärt seinen jugendlichen Zuhörern, dass die Gebote die jüdischen Menschen näher zu ihrem Gott bringen und damit an ihr Volk binden. Eines der wichtigen Geboten steht in 5. Mose 6,8-9: „Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein, und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore.“

Außer einem biblischen Kommentator im 12. Jahrhundert, Samuel ben Meir, haben alle jüdischen Ausleger dieses Gebot wörtlich verstanden. Deswegen wurden die „Tefilin“, die Gebetsriemen, zu einem festen Bestandteil der jüdischen Tradition. In der kleinen Box, die jüdische Beter auf der Stirn oder am Arm tragen, stehen die vier Bibelstellen auf Pergament geschrieben, die dieses Gebot erwähnen.

2. Mose 13,1-10 und 11-16 sprechen über die Heiligung der Erstgeburt und den Auszug aus Ägypten. 5. Mose 6,4-8 ist das bekannte „Schemah Israel“, und in 5. Mose 11,13-21 wird die Verbindung hergestellt zwischen dem lebensnotwendigen Regen für das Land und dem Gehorsam, der Liebe und der Hingabe des Volkes gegenüber seinem Gott. In allen vier Textabschnitten wird betont, dass Eltern mit ihren Kindern über diese Worte reden sollen.

Wie das Gebot der „Tefilin“ praktisch ausgeführt werden soll, erklärt die mündliche Tradition. Die viereckige Form des Gehäuses erinnert an den Altar, dessen vier Hörner erreichbar sein sollten. Im Gehäuse selbst befinden sich in vier Abteilen die vier Bibelabschnitte, die von ausgebildeten Schreibern von Hand geschrieben werden müssen. Die kleine Box wird dann mit Leder umschlossen und mit 12 Stichen – die an die zwölf Stämme Israels erinnern – vernäht. In den Tefilin für die Hand sind alle vier Bibelstellen auf ein Stück Pergament geschrieben.

Das Leder von Giraffen

Reichman erklärt, dass die heutige Form der Tefilin nur durch moderne Herstellungsverfahren möglich wird. Früher hat man die Pergamentstücke in weiches Leder, vor allem Schafsleder, gehüllt. Grundsätzlich kann man aber die Haut aller reinen Tiere für die Herstellung von Tefilin verwenden, sie müssen nicht einmal „koscher“ zum Essen sein. So käme, laut Chaim Reichmann, theoretisch auch eine Giraffe in Frage, die aber wegen ihres langen Halses so schwierig zu schlachten sei.

Das Leder wird mit Salz und Kalzium gegerbt, mit Metalldrähten in die richtige Form gezogen und dann mit einer Kraft von ungefähr zehn Tonnen gepresst. Danach wird es innerhalb von drei Wochen 15 mal gefärbt, bis die schwarze Farbe richtig eingezogen ist. Die Herstellung der Gebetsriemen wird unter der sorgfältigen Prüfung von Rabbinern vollzogen und dauert etwa ein Jahr, manchmal aber auch viel länger.

Auf zwei Seiten des „Tefilin“-Gehäuses erscheint der hebräische Buchstabe „Schin“. Die jüdische Mystik, die Kabbalah, erklärt das „Schin“ als Beginn des Gottesnamens „Schaddai“, „der Allmächtige“. Das eine der beiden „Schin“ auf den Tefilin hat ganz gewöhnlich drei „Arme“, während das andere vier „Arme“ hat – was ein Hinweis auf die drei Erzväter und die vier Stammmütter des jüdischen Volkes sein soll. Die Summe der „Schin-Arme“, Sieben, bietet den Zahlenmystikern eine weitere Unmenge von Deutungsmöglichkeiten.

Wer sie fallen lässt, muss fasten

Im dem handgeschriebenen Text auf Pergament darf kein einziger, auch noch so geringer Fehler vorkommen, sonst sind die „Tefilin“ unbrauchbar. Wer die „Gotteswortkapseln“ fallen lässt, muss einen Tag lang fasten. Wenn auch nur eine Ecke leicht verformt wäre, und so die Form des „Altars“ verändert würde, machte das den Gegenstand unbrauchbar. Niemals würden Juden eine Bibel, das geschriebene Wort Gottes, auf den Boden legen. Und wenn es doch einmal vorkommen sollte, dass eine Torahrolle auf den Boden fällt, muss der Verantwortliche mit einem 40-tägigen Fasten dafür büßen.

Da es kaum möglich ist, die Gebetsriemen den ganzen Tag zu tragen, werden sie beim täglichen Morgengebet angelegt. In 2. Mose 31,17 wird der Sabbat als „Zeichen“ bezeichnet. Deshalb muss das „Zeichen“ der Gebetsriemen am Sabbat nicht noch zusätzlich angelegt werden.

Das Wort „Tefilin“ wird entweder vom hebräischen Wort für „Gebet“ oder von einem Ausdruck für „absondern“, „unterschiedlich behandeln“ abgeleitet. In Verfolgungszeiten konnte das „Absondern durch Gebetsriemen“ bedeuten, dass ein Jude zum Märtyrer wurde. Es war also nicht immer so, dass das öffentliche Gebet mit den „Tefilin“ Ehre und Ruhm zur Folge hatte – was Jesus in Matthäus 23,5 an den Pharisäern kritisiert.

Übrigens scheint die Kritik des orthodoxen Juden Jesus von Nazareth an der Herzenshaltung mancher Frommer in seinem Volk nicht ohne Folgen gewesen zu sein. Ganz im Sinne Jesu betont Chaim Reichmann, dass die Tefilin nur das Äußere, die Kapsel, seien, während es auf den eigentlichen Inhalt, nämlich das Wort der Torah, ankommt. Drastisch führt er den Kindern vor Augen, warum das Schwein unter den unreinen Tieren das Schlimmste ist: „Mit seinen gespaltenen Hufen erweckt es nach außen hin den Anschein, als wäre es rein, in Wirklichkeit aber ist es im Innern unrein. Bei einem Juden muss der äußere Schein mit dem inneren Sein, das Verhalten und die Einhaltung der Gebote, mit der Herzenshaltung übereinstimmen.“

Im Alter von 13 Jahren beginnt für die jüdischen Jungen die Pflicht, Gebetsriemen aufzusetzen. Wenn sie angelegt werden, rezitiert der Beter beispielsweise Hosea 2,21-22: „Ich will mich mit dir verloben für alle Ewigkeit, ich will mich mit dir verloben in Gerechtigkeit und Recht, in Gnade und Barmherzigkeit. Ja in Treue will ich mich mit dir verloben, und du wirst den Herrn erkennen.“

Die Schulkinder, die selbst im Laufe des nächsten Jahres 13 Jahre alt werden, hören aufmerksam zu und stellen viele Fragen, vor allem, was die Tauglichkeit und Untauglichkeit der Gebetsriemen betrifft, aber auch, ob man sie für die Bar Mitzwa vom älteren Bruder ausleihen darf. „Und was ist, wenn ein Araber oder ein Christ diese Gebote halten möchte?“, will der schwarzhaarige Amit wissen. „Ich könnte sie nicht daran hindern…“ Chaim Reichmann wird nachdenklich: „Nein, hindern kann ich sie daran nicht!“

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