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Syrien, die lange Katastrophe

Das Buch „Syria“ beschreibt den Syrien-Konflikt in seiner ganzen Verwachsenheit. Es zeigt: Der Konflikt wird noch Generationen von Syrern beschäftigen. Gewiss ist nur die Ungewissheit. Eine Rezension von Johannes Gerloff
Einfacher Titel, komplexes Thema: „Syria“

Vor noch wenigen Jahren war Syrien eines der stabilsten Länder des Nahen Ostens. Heute ist das Land zwischen Tigris und Mittelmeer zerstört. In kaum vier Jahren wurde mehr als die Hälfte der syrischen Bevölkerung entweder getötet, verkrüppelt oder vertrieben. UN-Vertreter sprechen von „der schlimmsten humanitären Krise unserer Zeit“. Ein Ende ist nicht in Sicht. Der kanadische Historiker und Politologe Samer Nassif Abbud analysiert in seinem Buch, das in diesem Jahr unter dem Titel „Syria“ im Verlag „Polity Press“ auf Englisch erschienen ist, die Katastrophe des Landes, in dem seine eigene Familie ihre Wurzeln hat.
Im ersten Kapitel zeichnet er den historischen Werdegang Syriens seit Ende des Osmanischen Reiches über das französische Mandat nach. Von 1963 bis ins erste Jahrzehnt unseres Jahrhunderts wurde das Land als „Arabische Republik Syrien“ von der Baath-Partei zuletzt unter Präsident Baschar al-Assad beherrscht. Abbud beschreibt nach dem Entstehen des syrischen Aufstands (Kapitel 2) die Entwicklung des bewaffneten Widerstands (Kapitel 3), die Einmischung der internationalen Gemeinschaft (Kapitel 4), den Zerfall des Landes (Kapitel 5) und die humanitäre Krise (Kapitel 6). In einer abschließenden „Zusammenfassung“ bemüht er sich um „Ausblicke auf eine Lösung“, bevor das Buch mit einer ausführlichen Literaturliste und einem Index schließt.

Verwirrende Vielfalt

Gelungen ist die Darstellung der verwirrend vielschichtigen Gesellschaft Syriens, die sich aus Sunniten, Alawiten, Ismailiten, Drusen, Schiiten, Griechisch-Orthodoxen, Maroniten und weiteren christlichen Denominationen zusammensetzt. Neben religiösen Unterschieden sind ethnische Gruppierungen zu beachten, unter denen besonders die acht Prozent Kurden zu nennen sind.
Abbud, der in Kanada Politikwissenschaft studiert hat, bevor er in Arabisch und Islamstudien an der Universität Exeter in Großbritannien promovierte, zeigt, dass die Gegenwart ohne die historischen Entwicklungen nicht zu verstehen ist. Um ein Beispiel zu nennen: In den 1960er-Jahren wurden 100.000 Kurden ihrer syrischen Staatsbürgerschaft beraubt und zu Staatenlosen gemacht. Sie hatten kein Recht zu arbeiten, Immobilien zu besitzen, zu reisen oder auf irgendwelche Sozialleistungen. Seit den 1950er-Jahren war bereits die kurdische Sprache von allen Bildungseinrichtungen verbannt. Heute kooperieren die Kurden teilweise mit dem Assad-Regime, streben gleichzeitig aber mit ihren Volksgenossen in der Türkei, dem Irak und dem Iran letztendlich eine staatliche Unabhängigkeit an.
Die Zersplitterung Syriens ist kaum begreifbar, noch weniger erklärbar. Das Carter-Zentrum schätzte 2013 mindestens 1.050 Brigaden und 3.250 Bataillone oder Kompanien in Syrien in Aktion. Milizen aus dem Libanon, Nordafrika, Afghanistan, dem Irak und dem Iran sind genauso aktiv, wie unzählige Kämpfer aus aller Herren Länder, die sich ganz unterschiedlichen Gruppierungen angeschlossen haben.
Abbud bemüht sich, Netzwerke von Rebellengruppen nachzuzeichnen, betont das Misstrauen, das auch ideologisch verwandte Gruppen trennt, beobachtet, wie man Loyalitäten gelobt und wieder entzieht „mit alarmierender Frequenz“ und stellt fest: „Zivilisten treiben die Gewalt noch mehr als Soldaten voran.“ Letztendlich meint der junge Politikprofessor vier Gruppen charakterisieren zu können – neben den Loyalisten dessen, was von der alten Regierung Assad noch übrig geblieben ist, und den Kurden: Die Dschabhat an-Nusra (syrische Al-Qaida), den „Islamischen Staat“ (irakische Al-Qaida), die Freie Syrische Armee und die Volksverteidigungskorps.
Ein entscheidender Faktor des Syrienkonflikts ist das Engagement ausländischer Mächte. Neben Katar, der Türkei und Saudi-Arabien sind auch der Iran, Russland und die Hisbollah massiv an dem Krieg, der schon lange kein Bürgerkrieg mehr ist, beteiligt. Es gelingt Abbud, Zusammenhänge aufzuzeigen, die für Syrien entscheidend sind, aber in einem weiteren regionalen Kontext gesehen werden müssen. So führen etwa die arabischen Golfstaaten Katar und Saudi-Arabien einen Stellvertreterkrieg, nicht nur in Syrien, sondern gleichzeitig auch in Ägypten und Libyen.

Analyse ohne Lösung

Abbuds Buch wurde vor der massiven Einmischung Russlands in den Syrienkonflikt veröffentlicht, und vor der überwältigenden Flüchtlingswelle in Richtung Europa im Spätsommer 2015. Die Politik des Westens wurde damals aus syrischer Sicht als unbeständig und mehrdeutig wahrgenommen und erschien deshalb ineffektiv und unbedeutend. Abbud arbeitetaktuell als „Associate Professor“ für „Historical and Political Studies“ am „Department of International Studies“ der „Arcadia University“ im US-amerikanischen Glenside in Pennsylvania. Der Obama-Regierung wirft er vor, eines zu sagen und etwas anderes zu tun. Sanktionen bezeichnet er als weitgehend unwirksam. In einem Punkt waren sich zur Abfassung von Abbuds Werk die EU, Nordamerika, Australien und Neuseeland noch einig: In ihrer Verurteilung des Regimes Assad und der Forderung nach einem Regimewechsel in Syrien. Doch die aktuellen Entwicklungen, vor allem durch das massive Eingreifen Russlands bewirkt, lassen auch die Eindeutigkeit dieses einen Aspekts fraglich erscheinen.
Interessanterweise klammert der Autor die Stellung des Westens gegenüber der Kurdenfrage praktisch völlig aus. Die eigenen syrischen Wurzeln Abbuds kommen immer wieder zum Tragen. Er analysiert und schreibt offensichtlich aus einer säkularen Perspektive, kann deshalb gut die Position des Assad-Regimes nachvollziehen. Im Blick auf die Islamisten und vor allem auch den „Islamischen Staat“ liefert er indes wenig Neues.
Abbud erkennt richtig, dass dieser Konflikt Auswirkungen haben wird auf Generationen von Syrern. Die syrische Gesellschaft wird nie mehr das sein, was sie einmal war. Im Blick auf die Zukunft hat er Recht, wenn er konstatiert: „Das einzig sichere ist die Ungewissheit.“ Er sucht eine Lösung „ohne Gewinner und Verlierer“, benennt die Fragmentierung, die soziale und humanitäre Krise, den politischen Wandel und die unzähligen bewaffneten Gruppierungen korrekt als „vier Hauptprobleme“.
Noch auf der vorletzten Seite verheddert er sich in Widersprüchlichkeiten: „Einerseits ist die Unterstützung des Konflikts unter den Syrern sehr gering … Andererseits ist der syrische Konflikt tief in regionalen Rivalitäten eingebettet“. Was man als Vorschläge in Richtung einer Konfliktlösung verstehen könnte, klingt nicht selten eher platt: „Jede Lösung des syrischen Konflikts … muss mit den Syrern selbst beginnen.“ Aber das kann ihm eigentlich nur zum Vorwurf machen, wer selbst passable Lösungsvorschläge machen oder auch nur die Lage in Syrien verstehen könnte. Und so jemand scheint momentan nirgends in Sicht. (jg)
Samer N. Abbud: „Syria“, in der Reihe „Hot Spots in Global Politics“, Polity Press, 248 Seiten, 21,90 Euro, ISBN 978-0-7456-9797-0

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