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Stiefbruder Seppl: Eine Namensodyssee von Mähren nach Galiläa

Geboren wurde Seppl Seger am 22. September 1920 in dem kleinen Städtchen Znaim im südlichen Mähren. "Das war ein Schabbat", erzählt er mit österreichischem Akzent, ganz als erinnere er sich daran, "ein Jom Kippur" - der Versöhnungstag, das heiligste Fest der Juden - "und man holte die Großmutter aus der Synagoge".

Die Eltern hatten eine große Konservenfabrik. Die Gegend um Znaim war bekannt für ihre Gurken und Seppl Seger liebt es, das längst Vergangene zu erzählen.

Bei der Frage nach seiner Muttersprache wird der fast 90-jährige Herr mit dem unbesiegbaren Humor verlegen: „Nun ja, der Vater kam aus Böhmen und sprach Tschechisch. Die Mutter stammte aus Mähren, das heißt, sie hat Deutsch gesprochen.“ Im Gegensatz zu seinen älteren Brüdern war Seppl Seger dann aber schon in der tschechoslowakischen Ersten Republik geboren. „Deshalb bin nur auf tschechische Schulen gegangen.“

„Aber mein Vater hat mich dann gezwungen, das letzte Schuljahr auf eine deutsche Schule zu gehen, damit ich Deutsch schreiben lernte. Das war sehr zu meinem Nachteil, weil der Klassenlehrer ein großer Antisemit war.“ Eine Geografiestunde kann Seger nicht aus dem Gedächtnis löschen. Der Lehrer hatte ihn nach vorne gerufen, um den Verlauf der Donau zu beschreiben. „Wie ich in der Mitte der Donau war, hat er sein Glasauge herausgenommen und am Ärmel gerieben“, erzählt er mehr als sieben Jahrzehnte danach und ahmt die Bewegung des Lehrers nach. Sein Gesicht spiegelt die Gefühle wider: „Mir wurde übel und ich konnte nicht weiterreden. Da rief er aus: Der Jude Seger weiß wieder nicht, wo die Donau hin fließt.“

Znaim, das heute den tschechischen Namen Znojmo trägt und unweit der Grenze zu Österreich liegt, war „eine deutsche Stadt. Man hat hauptsächlich Deutsch gesprochen“, erinnert sich Seger. Als er zehn Jahre alt war, lebten dort laut Wikipedia „68.093 Deutsche, 31.253 Tschechen und 3.260 Juden und andere Nationalitäten“. Als kleiner Bub wurde Seger noch Rudi gerufen, denn eigentlich hatte er den Namen Rudolf erhalten – einfach nur Rudolf, keinen hebräischen Namen, wie das sonst bei Juden in der Diaspora üblich war. „Das ist interessant“, grübelt Seppl auf Nachfrage: „Mein großer Bruder hieß Walter, hatte aber noch den jüdischen Namen Jaakov. Bei mir ist man irgendwie schon assimilierter geworden.“

Spitzname durch Karikatur

Zum „Seppl“ wurde er durch eine Karikatur in der „Kronenzeitung“, „eine österreichische Zeitung, die bis heute existiert“, lacht er verschmitzt. „Da erschien ein kleiner Mann mit einer großen Nase und der hieß Seppl. Dabei stand der Spruch:

‚Seppl mit der Gurkennasen
geht in d‘ Stadt Trompetenblasen,
geht ums Eck,
fallt in Dreck,
haut sich’s Nasenspitzl weg.'“

Der Spruch geht Seppl Seger von den Lippen, als habe er ihn gestern gelernt, und er erklärt dazu: „Ich hatte wahrscheinlich damals eine große Nase.“ – „Die hast du heute noch!“, meldet sich die sonst so schweigsame Ehefrau Tamar zu Wort. – „Und mein großer Bruder hat mich damit immer geärgert“, fährt Seppl unbeirrt fort: „So bin ich der Seppl geblieben“ – bis auf den heutigen Tag.

Im September 1938 musste Seppl Seger vor den deutschen Nationalsozialisten fliehen, als die das Sudetenland „heim ins Reich“ holten. Der Überrest der mährischen Fabrikantenfamilie sammelte sich noch einmal in Brünn. Aber im März verkaufte Seppl seinen geliebten roten Sportwagen und erstand für die 6.000 Kronen Verkaufserlös ein Ticket nach Palästina. Erstaunliche Einzelheiten sind dem fast 90-Jährigen aus dieser Zeit im Gedächtnis haften geblieben: „Ich hatte noch ein paar Groschen in meiner Tasche. Habe ich mir gekauft eine ganze Schachtel Schokolade, aber unter der Bedingung, sie muss in kleinen Würfeln sein. Und von den allerletzten Groschen“, erzählt er und zieht eine vergilbte Plastikfolie hervor, „habe ich mir dann diese beiden Blocks gekauft und einen Bleistift und habe geschrieben Tagebuch. Kannst Du das lesen? Ich nicht mehr! So klein und undeutlich.“

Mehrere Monate auf Flüchtlingsschiff

Doch die beiden gelblichen Tagebuchblöcke erzählen, dass Seppl Seger am Sonntag, dem 12. März 1939, von Brünn zusammen mit 780 weiteren jüdischen Flüchtlingen per Zug nach Pressburg gefahren ist. Von dort sind die illegalen Auswanderer auf zwei Donaudampfern den Strom hinunter bis ins Schwarze Meer gefahren. Ein erster Versuch, im britischen Mandatsgebiet Palästina zu landen, wird von der britischen Marine verhindert. Mehr als drei Monate sind die Flüchtlinge auf See. Dreimal wechseln sie das Schiff, bis sie schließlich am 3. Juli 1939 auf einem kleinen Schifferboot vor Haifa landen. Auf dem total überfüllten Boot herrscht die Ruhr. Die Engländer wollen den verzweifelten Flüchtlingen noch immer nicht die Einreise gestatten – obwohl sie ihr Mandat bekommen hatten, um dem jüdischen Volk eine Heimstätte in Palästina zu schaffen.

Seppl schildert die schreckliche Situation mit so viel Humor, dass sich kaum ein Zuhörer des Lachens erwehren kann. „Wer hat das Gelobte Land als erster gesehen?“, fragt er rhetorisch und gibt gleich selbst die Antwort: „Der Seppl! Denn der saß auf dem Anker der Bootes. Einen anderen Platz habe ich nicht mehr gefunden.“ In dem gemütlichen Wohnzimmer im Norden Israels hält er die verblasste Kopie eines Bildes in Händen, das ein Boot zeigt, auf dem viele Menschen zusammengedrängt sind: „Da, siehst Du die beiden Beine?“ Er zeigt auf den rechten Rand des Bootes. „Das sind meine!“

Der große Bruder war schon 1933 nach Palästina ausgewandert und lebte im Kibbutz Givat Chaim. Ein erster Schock war, dass der Bruder den ausgemergelten jungen Mann nicht mehr erkannte. Seppl Seger hält es nicht lange im Kibbutz aus. Als dann eine Gelegenheit kam, am Ostufer des Sees Genezareth bei der Gründung des Kibbutzes Ein Gev zu helfen, meldet sich Seppl freiwillig – und schleppt wochenlang Steine von den Feldern in den See. Heute sitzen dort die Touristen auf den schwarzen Basaltbrocken der Mole und lassen sich den legendären, grätenreichen Petrusfisch schmecken.

In Ein Gev kam der Flüchtling aus Mähren zu seinem hebräischen Namen. Die Kibbutzsekretärin kommentierte seinen Vornamen Rudolf auf Jiddisch mit: „Dus is koi jiddischer Numen?“ „Dann hat sie so vor sich hingemurmelt, welche Namen wohl mit ‚R‘ anfangen“, erinnert sich Seppl, „bis sie stehen geblieben ist bei Rafael.“ „Dein Numen is Rafael!“, erklärt ihm die Frau bestimmt aber unbürokratisch – „und so bekam ich mein erstes Dokument in Israel auf den Namen Rafael. – Das ist bis heute mein hebräischer Name geblieben. Aber alle kennen nur den Seppl“, lacht Rudolf Rudi Rafael Seppl Seger.

Einige Monate später beschließt die jüdische Jugendbewegung Blau-Weiß, in Israel Tchelet-Lavan, die Seppl noch aus seiner mährischen Heimat kannte, einen Kibbutz am Mittelmeerstrand in Naharija zu gründen. Den Kibbutz, der damals den Namen „Gaaton“ trug und heute am Hule-See als „Kibbutz Mordechai“ weiter existiert, verlässt Seger, als er 1947 mit Ausbruch des israelischen Unabhängigkeitskrieges Soldat wird. Aber Naharija blieb sein Wohnort während seines gesamten Berufslebens als Lastwagen- und Busfahrer.

Erste Begegnung mit Tamar

In Naharija lernte er auch seine Tamar kennen. Die beiden sind mittlerweile mehr als 60 Jahre miteinander verheiratet und scheinen noch immer verliebt. Seppl erzählt: „1948 beim Militär habe ich die Gelbsucht bekommen. Ich war krank geschrieben. Eines Tages fahr ich mit dem Bus in Naharija. Auf einmal springt eine Soldatin auf und lauft zu dem Buschauffeur und sagt: Lass mich abspringen bei der Brücke. Ich muss um drei Uhr meinen Dienst antreten. Da habe ich auf die Uhr geschaut, es war zwei oder drei Minuten vor drei. Habe ich mir gesagt, wenn eine Soldatin so präzise arbeitet wie die, das wird meine Frau.“

Auf dem Weg bis zur Hochzeit gab es dann aber noch einige Hindernisse. Im Krankenhaus von Naharija hatte Seppl eine Freundin. Der erzählt er: „Bei Euch ist eine kleine Krankenschwester – und habe sie geschildert. Sagt meine Freundin: Ja, das ist meine beste Freundin. Habe ich ihr gesagt: Nein, das wird meine Frau!“ Noch in derselben Nacht macht er mit seiner Freundin Schluss.

„Am nächsten Tag in der Früh wollte ich mir meine zukünftige Frau anschauen, wie sie ausschaut bei Tageslicht“, erzählt der alte Herr die sechs Jahrzehnte alte Liebesgeschichte. „Aber in der Nacht waren große Kämpfe an der libanesischen Front. Es gab viele Verwundete.“ Da schaltet sich Tamar in die Erzählung ein: „Ich hatte einen Verletzten auf einer Tragbahre und es hat mir noch eine Hand gefehlt. Da habe ich zu Seppl gesagt: Man steht nicht mit den Händen in den Hosentaschen. Komm hilf mir!“ Dass Seppl kein Blut sehen kann, hat er der geliebten Krankenschwester erst später gestanden.

Der Frage, ob das ihre erste Erinnerung an den Lebensgefährten war, weicht Tamar Seger geschickt aus: „Meine erste schöne Erinnerung war, wie in Naharija ein Lastwagen neben mir anhielt. Seppl springt vom Auto raus. Wir kannten uns kaum. Und dann sagt er: Was hältst Du vom Sommernachtstraum? – Ich hatte vom Sommernachtstraum geträumt, wusste, dass diese Oper in Haifa aufgeführt wurde, sah aber keine Möglichkeit, dort hinzukommen. Da habe ich mir gesagt: Wenn Dich einer so tief versteht, dann ist das dein Freund.“

Kaffeeservice statt Wassergläser

Und dann gab es da noch ein einschneidendes Erlebnis während der Verlobungszeit. „Ich hatte nur zwei Zahnputzgläser“, erinnert sich Tamar, „darin habe ich ihm etwas zu Trinken angeboten.“ „Schrecklich“, wirft Seppl dazwischen, „Kaffee aus einem Wasserglas!“ „Bei unserer nächsten Begegnung kam er mit einer großen Schachtel an“, erzählt die alte Dame mit jugendlichem Elan, „da war ein ganzes Kaffeeservice drin. Ich wollte es nicht annehmen – sagte mir: Ich kann doch von einem fremden Mann kein Geschenk annehmen!“

Da Seppl das Geschenk aber unter keinen Umständen zurücknehmen wollte, hat sie es „ganz hinten unters Bett geschoben – bis das Passahfest kam.“ „Zum Glück“, murmelt Seppl, der während der Erzählung seiner Frau aufgestanden ist und zum Wohnzimmerschrank geht. Dort fällt er auf die Knie und kramt eine alte Tasse hervor: „Sieh hier, es gibt sie noch. Da steht ‚Made in Czechoslovakia‘.“ Stolz zeigt er die Tasse, mit der er seine Tamar erobert hat, und die meint: „Bis heute kommt dieses Geschirr nur an Pessach raus. Und sieh: Es ist sogar in den Farben der Tschechoslowakei!“ Wenige Monate nachdem Seppl einen ganzen Monatslohn für das Kaffeeservice ausgegeben hat, haben die beiden geheiratet.

Tamar Seger stammt aus Marktbreit bei Kitzingen in Unterfranken und wuchs als vierzehntes von fünfzehn Kindern der alteingesessenen Familie Oppenheimer auf. Seppl ist stolz darauf, dass die Familien Oppenheimer und Wertheimer – auf die er seinen eigenen Stammbaum zurückverfolgen kann – „die Kaiser und Könige Europas im Mittelalter finanziert haben, damit die ihre Kriege machen konnten“. Die Häuser, von denen aus die jüdischen Kaufleute ihre Geschäfte führten, stehen bis heute noch in Marktbreit: das „Haus Wertheimer“ und das „Haus Oppenheimer“.

Nach der Reichskristallnacht im November 1938 wird Tamar der Antisemitismus in Deutschland zu heftig. „Wir konnten nichts mehr machen“, erinnert sie sich mit zitternder Stimme an die traumatische Zeit, „uns war alles genommen worden.“ So wandert sie mit der Jugendalijah nach Palästina aus, wo sie Ende August 1939 als legale Einwanderin ankommt.

Spalierstehen für den Erzbischof

25 Jahre lang war Seppl Seger Busfahrer bei der Egged-Buskooperative. Mit Leib und Seele fuhr er christliche Pilgergruppen durch seine Wahlheimat. Im Rückblick spricht er von „meinen Pfarrern“, mit denen er auch einmal im Kibbutzgästehaus von Ginossar am Ufer des Sees Genezareth war. „Da sagt man mir an der Rezeption: ‚Seppl, horch zu, heut haben wir hohen Besuch. Der Erzbischof Dr. König aus Wien ist hier bei uns im Hotel.‘ – Ich hatte auch eine katholische Gruppe“, erzählt Seppl, „und habe ihnen vor dem Abendessen gesagt: Hört zu, heut gibt’s großen Besuch. Wir werden uns in einer Reihe aufstellen und empfangen die Kollegen aus Österreich.“

So standen Seppls dreißig Pfarrer dann in Reih und Glied im Speisesaal, um einer nach dem anderen die erzbischöfliche Delegation zu empfangen. „Man gab sich die Hand“, erinnert sich Seppl, „und hat sich begrüßt mit ‚Bruder Soundso‘ und ‚Bruder Soundso‘ und ‚Bruder Soundso’… Ich war der letzte in unserer Reihe. Der Herr Erzbischof war der letzte in der Reihe der Ankömmlinge. Wie der zu mir kam, musste ich ihm auch die Hand geben und habe mich vorgestellt: ‚Stiefbruder Seppl‘.“

„Nach dem Essen habe ich gesehen, dass der Herr Erzbischof noch irgendwie um mich herumschleicht“, erzählt der pensionierte Busfahrer mit verschmitztem Lächeln. Als der Kleriker es dann endlich schafft, ihn zur Seite zu nehmen, fragt er: „‚Stiefbruder Seppl – wie haben Sie das gemeint?‘ – Hab ich ihm die Hand gegeben und gesagt: ‚Stiefbruder Seppl jüdischen Glaubens‘. Da hat der Herr Erzbischof einen Lachkrampf bekommen und ich hieß von da an in meiner Gruppe nicht mehr ‚Seppl‘ sondern war nur noch ‚Stiefbruder‘.“

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