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Späte Bruderliebe nach Bergen-Belsen

Der Dokumentarfilm „Aidas Geheimnisse“ erzählt von einem Israeli, der im hohen Alter von der Existenz seines blinden Bruders erfährt. Getrennt wurden sie im Überlebenden-Lager in Bergen-Belsen nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine Rezension von Michael Müller
Im Rentenalter treffen sich die Brüder Shep und Izak zum ersten Mal im Leben

Izak Szewelewicz kommt im Überlebenden-Lager von Bergen-Belsen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zur Welt. Seine polnische Mutter Aida, welche die Nazis als Zwangsarbeiterin nach Deutschland verschleppten, schickt ihn als Kleinkind nach Israel. Dort wird er adoptiert. Bis ins Rentenalter erfährt er nicht, wer sein Vater ist und dass er einen jüngeren Bruder hat. Erst durch die Recherche seines Neffen Alon Schwarz, der den Dokumentarfilm „Aidas Geheimnisse“ darüber gedreht hat, kommen bislang unbekannte Tatsachen ans Licht. Die ARD hat den Film am Mittwochabend ausgestrahlt.

Es ist schon eine verzwickte, tief bewegende Familiengeschichte um den Israeli Izak. Seine eigene Familie wusste durch die Besuche der Mutter in Israel um das Schicksal seines jüngeren Bruders Shep. Sie hatte aber ihr Versprechen gegeben, es ihm nicht zu erzählen. Durch die Recherche des Dokumentarfilms erfährt Izak nun von seinem blinden Bruder, der in Kanada lebt. Es kommt dort zu einem bewegenden Wiedersehen. Aber das Treffen wirft viele neue Fragen auf: Warum gab ihre Mutter die beiden Kinder damals im Lager getrennt voneinander weg? Warum bemühte sie sich nicht später, als sie selbst nach Kanada ausgewandert war, um eine Familienzusammenführung? Haben die Brüder überhaupt den selben leiblichen Vater?

Mutter Aida lebte zum Zeitpunkt der Dokumentation in einem Altenheim in Montréal Foto: ARD
Mutter Aida lebte zum Zeitpunkt der Dokumentation in einem Altenheim in Montréal

Wie beim Häuten einer Zwiebel

„Aidas Geheimnisse“ ist eine liebevoll inszenierte und technisch perfekt gemachte Dokumentation, die zu Tränen anrührt. Sie hat einen wundervoll orchestrierten Soundtrack, der leicht jazzig angehaucht ist und trotz der ernsten Thematik die Lebensfreude der Protagonisten betont. Es ist dabei nicht nur das späte Wiedersehen der Brüder, das bewegt. Vor allem der leidenschaftliche Einsatz der ganzen Familie, die Puzzleteile der lückenhaften Lebensgeschichten zusammenzusetzen, ist mitreißend. Wie beim Häuten einer Zwiebel legt der Film Schicht für Schicht die Hintergründe um die Ereignisse im Lager Bergen-Belsen frei, soweit sie noch recherchierbar sind.

„An dieses Kleine-Bruder-Ding muss ich mich erst noch gewöhnen“, scherzt Shep, der sofort mit seinem älteren Bruder Izak auf einer Wellenlänge kommuniziert. „Du hast das Glück, ihre Stimme zu hören“, motiviert Izak seinen blinden Bruder, der zögert, ihre Mutter zu treffen, weil er Angst vor Zurückweisung hat. Als die beiden sie in einem kanadischen Altenheim besuchen, brechen auch die Familienmitglieder hinter der Kamera in Tränen aus. Es ist der vielleicht größte Glücksmoment des Films, wenn die Brüder mit ihren Familien nach dem Besuch im Whirlpool des Hotels sitzen. Sie lassen den Tag Revue passieren, während es zu schneien beginnt.

Der kleine Bruder Shep trifft zum ersten Mal seine leibliche Mutter Foto: ARD
Der kleine Bruder Shep trifft zum ersten Mal seine leibliche Mutter

Im KZ ein Stück der Seele verloren

Aber „Aidas Geheimnisse“ ist mehr als eine Familienzusammenführung. Der Film hinterfragt allgemein die Identität des Menschen, die sich natürlicherweise stark aus dem Leben der Eltern speist. Wie viel weiß man schon wirklich über deren Leben? Was ist wahr, was wurde weggelassen oder beschönigt? „Vater und Mutter haben in den Konzentrationslagern ein Stück ihrer Seele verloren“, sagt einmal Shep. Es sind schon außergewöhnliche Umstände, unter denen die beiden Söhne zur Welt kommen. Anhand von alten Filmaufnahmen amerikanischer Soldaten und verschollen geglaubten Fotoalben rekonstruiert die Dokumentation das Leben im Überlebenden-Lager in Bergen-Belsen. „Displaced Persons“ hießen diese Personen nach dem Zweiten Weltkrieg, Menschen ohne Heimat.

Der Film kann nicht alle Antworten geben, weil es für Mutter Aida zu schmerzhaft wäre, die ganze Wahrheit zu erzählen. Aber Regisseur Alon Schwarz befragt zusammen mit seinem Bruder Saul Schwarz viele Zeitzeugen, sichtet große Materialmengen in den Recherchezentren Europas und Israels. Einmal fantasiert er auch sehr wild und schön herum, wie es gewesen sein könnte. Was bleibt, ist die Erkenntnis, wie wertvoll und inspirierend auch eine so späte Familienzusammenführung für alle Beteiligten sein kann.

„Aidas Geheimnisse“, 88 Minuten, Alon und Saul Schwarz, läuft am Mittwoch, 16. August, um 22.45 Uhr in der ARD.

Von: mm

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