„Slichot“ – die Bitte um Vergebung

„Schon die Tatsache, dass man Gott mitten in der Nacht aufweckt, ist ein Grund, Slichot zu sagen!“ Es ist vier Uhr morgens. Wir sind im Jerusalemer Stadtviertel Nachlaot unterwegs. Und der mir das sagt, ist ein säkularer Jude, der zum Trotz am Jom Kippur Schweinefleisch isst. Im Unterschied zu säkularen Nichtjuden geht er aber offensichtlich davon aus, dass es Gott gibt und man ihn aufwecken kann. Er weiß, dass man am Jom Kippur eigentlich fasten und ansonsten überhaupt kein Schweinefleisch essen sollte – und tut es gerade deswegen am Jom Kippur. Und er weiß, was Slichot sind. Was er nicht bedacht hat, ist, was schon der antike Psalmbeter wusste: „Der Hüter Israels schläft noch schlummert nie!“

Slichah“ ist das hebräische Wort für „Entschuldigung“. „Slichot“ sind also wörtlich übersetzt „Entschuldigungen“. Die Slichot sind Bitten um Vergebung, deren Leitmotiv ist: Vater, wir haben gesündigt, sei uns gnädig! An den zehn Jamim Noraim, den zehn furchterregenden oder ehrfurchtgebietenden Tagen werden die Slichot früh morgens vor dem Morgengebet rezitiert. Die Jamim Noraim sind die Tage zwischen Rosch HaSchanah, dem jüdischen Neujahrsfest, das in diesem Jahr am Abend des 22. September das jüdische Jahr 5767 eingeleitet hat, und dem Jom Kippur, dem großen Versöhnungstag, der auf den 2. Oktober 2006 fällt. Sephardische Juden rezitieren die Slichot 40 Tage lang, vom Beginn des Monats Elul bis zum Jom Kippur am 10. Tag des Monats Tischri nach dem jüdischen Kalender.

Die Zeit zwischen Rosch HaSchanah und Jom Kippur ist in der jüdischen Tradition eine Zeit der Selbstüberprüfung, der Rechenschaft und eine Möglichkeit, sich Versäumtes und Verschuldetes bewusst zu machen und in Ordnung zu bringen. Nach jüdischem Glauben werden in dieser Zeit die Namen der Guten ins Buch des Lebens eingeschrieben, die der Bösen jedoch daraus gelöscht. Somit ist sich jeder fromme Jude darüber im Klaren, dass in diesen Tagen über sein ewiges Schicksal entschieden wird. „Chatimah tovah„, eine „gute Unterschrift“ oder ein „gutes Eingeschriebenwerden“ in das Buch des Lebens wünscht man sich deshalb zwischen Neujahr und Versöhnungstag im jüdischen Israel.

Kurz nach vier Uhr in der Früh gehen in Nachlaot vereinzelt die ersten Lichter in den Häusern an den engen Gassen an. Die frommen Frühaufsteher machen sich auf den Weg, um die Slichot in der Synagoge zu sagen. Als es noch keine Wecker und zur rechten Zeit piepsenden Armbanduhren gab, so erzählt man sich, vor einem Jahrhundert etwa, lief ein Weckdiener mit einer Laterne durch die wenigen Viertel außerhalb der Altstadtmauern von Jerusalem, durch Nachlaot, Mea Schearim und Jemin Mosche, und hat um drei Uhr morgens gnadenlos „Slichooooot, Slichooooot!“ geschrieen. Damals standen noch alle auf, alt und jung, um die Slichot zu sagen. Heute huscht nur noch Reb Salman durch die dunklen Sträßchen und ermahnt die ungestümen israelischen Schulkinder mit strengem Blick, aber wenig erfolgreich, doch Rücksicht auf die Anwohner zu nehmen und still zu sein.

Früher war Nachlaot, das übersetzt soviel wie „Erbgrundstücke“ heißt und heute im Zentrum von Westjerusalem liegt, eigentlich viele kleine Siedlungsflecken. Da gab es die Syrer und die Türken, die Griechen und die Jemeniten, alles Juden, die mit ihrer jeweiligen Kultur, ihren Eigenarten und Dialekten, ihren Bräuchen und allem, was sie mitbringen konnten, Ende des 19. Jahrhunderts in das Land Israel gekommen waren, aus dem Irak, aus Arabien, Persien und aus Nordafrika, aber auch aus Osteuropa. Der Anfang war schwer, sehr schwer. Aber jede Gemeinschaft hat ihre Synagoge gebaut.

Wenn man durch die stillen Gassen geht, hört man bis heute die Unterschiede: den Wechselgesang der „Urfalim“, die aus dem Ort Urfal in Kurdistan kommen. In regelmäßigen Abständen fallen die Beter dem Vorsänger ins Wort oder antworten ihm. Unter dem Fenster der jemenitischen Juden hört man deren gemeinsames Singen der Slichot. Und wenige Meter weiter klingt das individualistische Murmeln der einzelnen aschkenasischen Orthodoxen durch die finsteren Gemäuerschluchten. Im traditionellen Städtel in Galizien oder Polen dürfte die Atmosphäre kaum anders gewesen sein. In der Adas-Synagoge mit ihren Wandmalereien und der geschnitzten Stirnwand taucht man ein in die Welt des mittelalterlichen Aleppo, der Heimat des Aleppo-Codex, einer der ältesten bekannten Bibelhandschriften.

Die Slichot sind ein Brauch, eine jüdische Sitte, keine Gesetzesvorschrift. Sie werden deshalb in der Regel ohne den Talith, den traditionellen Gebetsmantel, gesprochen, und – was entscheidend ist! – sie sind freiwillig, kein Zwang. Deshalb haben die unterschiedlichen Mentalitäten auch mehr Ausdrucksfreiheit. Fröhliche orientalische Juden scheinen sich vor allem über die Vergebung ihres himmlischen Vaters zu freuen und deuten die Buchstaben des Monatsnamens Elul als Anfangsbuchstaben des Satzes: „Ani LeDodi uDodi Li“ – „Ich gehöre meinem Geliebten und mein Geliebter gehört mir.“ Die strengen osteuropäischen Juden deuten dieselben Buchstaben ganz anders und meinen zerknirscht: „Oi Li ULeYitzri“ – „Wehe mir und meinem (bösen) Trieb.“

In dieser frühen Morgenstunde sind in Nachlaot die letzten Überreste der jüdischen Kulturenvielfalt zu erfahren, die zwar dem Judenhass ihrer Nachbarn ins Gelobte Land entkommen konnten – aber nur, um jetzt unerbittlich vom kulturellen Schmelztiegel des modernen Israel verschlungen zu werden. Neugierig sind in den frühen Morgenstunden zwischen Rosch HaSchanah und Jom Kippur Schulklassen, Touristengruppen und Soldateneinheiten in Nachlaot unterwegs, um etwas von dieser verschwindenden Welt zu erhaschen.

Viele Synagogen haben sich auf diesen Ansturm der Jungen, die ihre Kultur vergessen haben, vorbereitet und bieten am Eingang Kippot, die kleinen runden Kopfbedeckungen an, weil ein Mann einen gottesdienstlichen Raum im Judentum nicht mit unbedecktem Kopf betreten darf. Die ultra-orthodoxen, schwarz-gekleideten Aschkenasen sind nicht so gut organisiert. Bei der Frage nach einer Kippa sieht sich der alte Rebbe etwas hilflos um, hebt dann aber mit einem verschmitzten Lächeln seinen schmierigen Hut und zieht seine eigene schwarze Jarmulke darunter hervor. Dass der junge Mann, dem er liebevoll seine Kopfbedeckung, leiht gar kein Jude ist, kümmert ihn nicht.

Zwischen den Slichot ertönt, wie schon an Rosch HaSchanah und dann auch am Jom Kippur wieder, das Schofarhorn. Der Schall des Widderhorns ist ein Weckruf, der sich an den wendet, der geistlich eingeschlafen ist, und ihn zur Umkehr ruft. Vor allem aber verkündet er die Wiederherstellung all dessen, was ins Ungleichgewicht geraten ist und somit die Freilassung aller in irgendeiner Weise Gebundenen.

„Herr, Herr, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue, der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde, aber ungestraft lässt er niemanden, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis in dritte und vierte Glied“, erinnern sich die Beter an die Begegnung Moses mit dem lebendigen Gott auf dem Berg Sinai, wo auch das Schofarhorn ertönte. Die jüdische Schriftauslegung sieht darüber hinaus eine Beziehung des Schofars mit dem Widder, den Abraham einst anstelle seines einzigen Sohnes auf dem Berg Moriah geschlachtet hatte und weist hin auf das Kommen des Messias und die Auferstehung von den Toten.

(Bild: Johannes Gerloff)

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