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Siedler als Inbegriff des Fundamentalismus

Von seiner Heimat Deutschland aus setzt sich der jüdische Publizist Micha Brumlik mit dem Staat Israel auseinander. Der diesjährige Träger der Buber-Rosenzweig-Medaille übernimmt dabei allerdings Vorurteile, anstatt zum Verständnis zwischen Israelis und Diasporajuden beizutragen. Eine Buchrezension von Elisabeth Hausen
Micha Brumlik analysiert den Zionismus – und bleibt dabei nicht ohne Widersprüche
Juden in der Diaspora haben ihren eigenen Blick auf Israel. Der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik fasst seine Sicht der Dinge in dem Essay „Wann, wenn nicht jetzt?“ zusammen. Der Untertitel lautet: „Versuch über die Gegenwart des Judentums“. Als Einstieg beschreibt er die „aktuelle Krise“ zwischen Israel und der Diaspora. Darauf folgt ein Überblick zur Geschichte des Zionismus. In dem Zusammenhang porträtiert er den bekanntesten Vertreter des Revisionistischen Zionismus, Wladimir Jabotinsky. Weitere Kapitel befassen sich mit dem deutsch-israelischen Verhältnis infolge der Scho‘ah, vor allem im Hinblick auf die Moral, und mit Alternativen zur Zweistaatenlösung für den Nahostkonflikt. Abschließend lässt Brumlik die Leser an persönlichen Erfahrungen mit der Diaspora teilhaben. In seinen Ausführungen zeigt der 68-Jährige deutlich, wer seiner Meinung nach am bleibenden Unfrieden in Nahost schuld ist: Benjamin Netanjahu und dessen Kabinett. Neben dem Regierungschef ist dem Autor vor allem Bildungsminister Naftali Bennett ein Dorn im Auge. Und so dient ihm der Vorsitzende der Partei „HaBeit HaJehudi“ als Beispiel für „Fundamentalismus jüdischer Siedler im Westjordanland“. Bennett steht nach Brumliks Ansicht in der Tradition dreier Männer. Einer von ihnen ist Rabbiner Mosche Levinger, der nach dem Sechstagekrieg von 1967 ein Hotel in Hebron besetzte. Damit rief er die dortige jüdische Besiedlung wieder ins Leben, die durch die arabischen Pogrome vor dem Zweiten Weltkrieg nach Jahrhunderten unterbrochen worden war. Hinzu kommen der jüdische Terrorist Baruch Goldstein und der Mörder von Israels Premierminister Jitzhak Rabin, Jigal Amir. Netanjahu wiederum charakterisiert der Autor als „fatale Gestalt, die ich zwar nicht verachte, aber doch politisch total ablehne“. Brumlik ergänzt: „Seinen Aufruf an alle Juden, an uns, nach den Anschlägen von Paris und Kopenhagen im Januar und Februar 2015, Europa zu verlassen und nach Israel einzuwandern, musste ich schon aus Gründen der Selbstachtung, nicht nur der politischen Überzeugung zurückweisen.“ Dass bereits Netanjahus Amtsvorgänger Ariel Scharon und Ehud Olmert ähnliche Aufrufe geäußert hatten, erwähnt der Wissenschaftler nicht. „Ihr habt wunderbare Kinder“, hatte Olmert etwa bei einem Treffen mit Leitern jüdischer Organisationen in Paris im Juni 2006 gesagt. „Ich wünschte, sie könnten nach Hause kommen.“

Zionistische Widersprüche

In der Folge will der Autor den Zionismus ad absurdum führen: „Wenn es tatsächlich so wäre, dass durch eine mögliche iranische Bombe der Staat Israel und die von ihm völkerrechtswidrig besetzten Gebiete in genozidaler Weise ausgelöscht werden könnten, dann geht die zionistische Rettungsrhetorik in die Irre, dann treffen Hinweise jüdischer Funktionäre, dass der Staat Israel für die Juden in der Diaspora eine Art Lebensversicherung darstelle, nicht zu: Israel, an dem die Gefahr für Leib und Leben schon jetzt, ob des islamistischen Terrors allemal, so groß ist wie in Frankreich, ist einfach kein sicherer Platz.“ Gleichzeitig räumt er ein, dass Juden in Israel davor sicher seien, auf der Straße angepöbelt zu werden. Auch das unlängst verstorbene geistliche Oberhaupt der ultra-orthodoxen Schass-Partei, Rabbi Ovadja Josef, hat Brumlik auf dem Kieker. Der Rabbiner habe früher Interpretationen mit „einer extrem partikularistischen, in politischen Begriffen vordemokratischen, fundamentalistischen Deutung des Zionismus“ verstärkt. Der enorme Zuspruch und die Trauer über seinen Tod zeigten, dass diese Haltung – unabhängig von den Wahlergebnissen – offensichtlich eine wachsende Anzahl jüdischer Israelis anziehe. Die Siedler sind für den Publizisten offensichtlich der Inbegriff des Fundamentalismus: „Jüdischer Fundamentalismus, das ist heute in erster Linie der Fundamentalismus jüdischer Siedler im Westjordanland.“ Er betont die Illegalität der israelischen Ortschaften im Westjordanland. So schreibt er etwa: „Im Dezember 1987 brach schließlich die Erste Intifada aus, deren Aktionen bei den radikalen Siedlern gewalttätige, pogromartige Reaktionen hervorriefen und Anlass zu weiteren ‚wilden Siedlungen‘ gaben.“ Siedlerfundamentalismus und islamistische Palästinenser strebten gleichermaßen „die Auflösung des modernen, zionistischen Staates Israel an“. Äußerlich gibt der Akademiker, der im kommenden Sommersemester die Franz-Rosenzweig-Professur in Kassel innehat, seinem Buch einen betont wissenschaftlichen Anstrich: Verschachtelte Nebensätze mit Einschüben ziehen sich über mehrere Zeilen, die so mancher Leser dreimal lesen muss, um sie zu verstehen. Englische Zitate bringt der Autor im Original, in der Fußnote findet sich allerdings keine Übersetzung, sondern nur die Quelle – in den allermeisten Fällen eine Internetseite. Selbst bei einem Zitat des Schriftstellers Theodor Fontane, das sich vermutlich in derselben Form in einem Buch fände, greift er auf die Onlinevariante zurück – das würden ihm die meisten deutschen Universitäten ankreiden.

Illegalität der „Kolonisierung“

Den jüdischen Staat beschreibt Brumlik als eine Gesellschaft, „die – in dieser Frage sind sich die meisten internationalen Juristen einig – mit ihrem Besatzungs- und Besiedlungsregime im Westjordanland systematisch das Völkerrecht und auch die Menschenrechte von Palästinensern bricht“. Die Sperranlage nennt der Autor „jene stacheldrahtbewehrte Mauer, die der israelische Staat als Schutz vor palästinensischen Selbstmordattentätern errichtet hat und die als sichtbare Markierung jener Grenze dient, die der Staat Israel unter allen Umständen beansprucht“. Dabei geht er jedoch nicht darauf ein, dass offizielle israelische Vertreter immer wieder betont haben, der Zaunverlauf markiere keine endgültige Grenze. Der Staat Israel habe „seit nunmehr bald 50 Jahren jene zunächst Jordanien zugehörigen Teile des ehemaligen britischen Mandatsgebiets Palästina, die nach mehrheitlicher völkerrechtlicher Meinung nicht zu Israel gehören, besetzt, besiedelt und kolonisiert“, ergänzt der ehemalige Leiter des Fritz-Bauer-Institutes in Frankfurt am Main. Israel sei „ein ethnokratischer Staat, der seine nichtjüdischen Bürger faktisch zu Bürgern zweiter Klasse degradiert“, schreibt er, um sofort einzuräumen: „wenngleich arabische Bürger in keinem anderen Land der Welt – evtl. mit Ausnahme von Tunesien – ein solches Ausmaß an Freiheit, Sicherheit und Wohlstand genießen wie die arabischen Bürger Israels“. Das Projekt einer Zweistaatenlösung ist für den Autor mit den Knessetwahlen im März 2015 gescheitert, er spricht in dem Zusammenhang vom „besinnungslos dahergeplapperten Mantra“. Den Vorschlag eines föderalistischen Staatsgebildes, wie ihn der Historiker Michael Wolffsohn formuliert hat, hält er für ein „interessantes Modell“, lehnt ihn jedoch als „unangemessen“ ab. Eine Alternative wäre für ihn ein binationaler Staat.

Vereinzelt Fürspruch für Israel

Brumlik schreibt den Essay bewusst als Diasporajude mit Außensicht auf Israel. Er ist 1947 im schweizerischen Davos geboren und in Deutschland aufgewachsen, das er deutlich als seine Heimat kennzeichnet. Allerdings hat er vorübergehend in Israel gelebt: Nach dem Abitur studierte er 1968 in Jerusalem und war im folgenden Jahr landwirtschaftlicher Mitarbeiter in einem Kibbutz. Möglicherweise liegt es hieran, dass er den jüdischen Staat zumindest manchmal in Schutz nimmt. Gleich zu Anfang seines ersten Kapitels, „Israel und die Diaspora: die aktuelle Krise“, stellt er fest: „Dass freilich der Palästinakonflikt die politische Einbildungskraft nicht nur in Deutschland so viel stärker beschäftigt als alle sonstigen Konflikte auf der Welt, liegt keineswegs daran, dass er der Schlüssel zur Lösung aller Probleme der Region wäre. Es liegt vielmehr daran, dass Israel ein von Juden gegründeter Staat ist und als eine Reaktion auf die von Deutschen und anderen Europäern vollzogene Ermordung von sechs Millionen europäischen Juden gilt.“ Am 6. März hat Micha Brumlik die Buber-Rosenzweig-Medaille 2016 erhalten, die der Deutsche Koordinierungsrat der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit vergibt. Geehrt wurde damit sein „jahrzehntelanger wissenschaftlicher, publizistischer und pädagogischer Einsatz für eine Verständigung zwischen Juden und Christen in Deutschland“. Zur Verständigung zwischen Juden in der Diaspora und in Israel hat er hingegen zumindest mit seinem neuen Essay nichts beigetragen, dasselbe gilt für das deutsch-israelische Verhältnis allgemein. Denn er wiederholt vor allem Vorurteile, die in den Ländern der Diaspora auch ohne den Essay ausreichend verbreitet sind. Eine allgemeine Anfrage an den Autor, ob er für etwaige Fragen zur Verfügung stehe, blieb unbeantwortet. Der Buchtitel „Wann, wenn nicht jetzt?“ nimmt Bezug auf ein Zitat aus dem Mischna-Traktat „Pirke Avot“ (Sprüche der Väter) 1,14. Es lautet vollständig: „Wenn ich nicht für mich bin, wer ist für mich? Und wenn ich (nur) für mich selbst bin, was bin ich? Und wenn nicht jetzt, wann dann?“ Manche Ausleger deuten diese Sätze auf das Torah-Studium. Damit schafft der „liberal-religiöse Jude“, wie ihn der Deutsche Koordinierungsrat bezeichnet, eine Nähe zum orthodoxen Judentum, das er an sich ablehnt. Ähnlich widersprüchlich sind auch viele Passagen innerhalb seines Buches.
Micha Brumlik: „Wann, wenn nicht jetzt? Versuch über die Gegenwart des Judentums“, Neofelis, 132 Seiten, 10 Euro, ISBN: 978-3-95808-032-4

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