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Sderot: „Warum berichtet kein Journalist über die vielen Wunder?“

Eine ganz normale Stadt - das ist mein erster Eindruck von Sderot, als ich mit dem Bus von Aschkelon in Richtung Zentrum fahre. Doch der Schein trügt, wie ich bei näherem Hinsehen feststellen muss. Der jahrelange Raketenbeschuss aus dem nahe gelegenen Gazastreifen hat seine Spuren hinterlassen. Nicht nur Haltestellen und Schulen sind hier gegen Raketen gesichert, sondern auch ein neu eingerichteter Spielplatz.

„Dieser Spielplatz wurde während der letzten Waffenruhe gebaut“, erklärt Jacob Shrybman vom „Sderot Media Center“. „Sie haben gewusst, dass die Feuerpause nicht lange halten würde.“ Hinzu komme, dass Palästinenser im Gazastreifen auch während einer Waffenruhe Raketen auf Israel abfeuerten. „Die Kinder sollen sich sicher fühlen, wenn sie spielen.“ Und so befinden sich auf dem Gelände, das im November 2008 eröffnet wurde, nicht nur die üblichen Spielgeräte. Bunker in Form von Tunneln vervollständigen die Ausstattung. Von außen sind sie in fröhlichen Farben bemalt und sehen aus wie große Raupen.

Wenn es Raketenalarm gibt, haben die Kinder 15 Sekunden Zeit, um sich in diese Schutzräume begeben. Außen ist eine Warntafel angebracht: „Wenn der Alarm ‚Zeva Adom‘ zu hören ist, muss man in die Bunker gehen, und zwar hinter die orangefarbene Linie.“ In Sderot und anderen Orten in der Nähe des Gazastreifens wird das Alarmzeichen „Zeva Adom“ genannt – zu Deutsch „Farbe Rot“.

In den vergangenen acht Jahren sind mehr als 10.000 Raketen und Granaten aus dem palästinensischen Gebiet in Israel eingeschlagen. „Eine ganze Generation jüdischer, israelischer Kinder wächst auf und kennt nichts anderes als Raketenangriffe – eine Kassam-Generation“, sagt der Mitarbeiter des Medienzentrums, das Journalisten über die Lage in Sderot informiert.

Synagogenfeier: 400 Menschen entgingen Angriff

Als wir weitergehen, kommen wir an einer Synagoge vorbei. „Hier ist ein Wunder geschehen“, berichtet Shrybman, der aus den USA stammt. Eine neue Torah-Rolle wurde eingeweiht – ein großes Ereignis in einer jüdischen Gemeinde. „Etwa 400 Leute waren bei der Feier.“ Als sie die Synagoge verlassen hatten, putzten noch ein paar Mitarbeiter das Gotteshaus. Sie verschlossen den vorderen Teil des Gebäudes – da gab es Raketenalarm. „Sie suchten einen Bunker auf. Eine Rakete schlug ein und zerstörte den vorderen Teil. Und kurz davor waren noch so viele Menschen dort gewesen! 400 Menschen wurden gerettet.“ Mittlerweile wurde der zerstörte Teil der Synagoge wieder aufgebaut. Direkt neben dem jüdischen Gotteshaus befindet sich jetzt ein Schutzraum.

Die nächste Station des Rundgangs ist ein Wohnhaus, das im Januar während der Militäroperation „Gegossenes Blei“ im Gazastreifen getroffen wurde. Der Familie ist nichts passiert. Das Dach ist noch nicht repariert, auch am Zaun sind die Schäden sichtbar. Das Gebäude zeugt von den Angriffen, die den Alltag in Sderot prägen, aber auch davon, dass schon viele Menschen bewahrt wurden. „Warum schreibt eigentlich niemand über die Wunder, die hier jeden Tag geschehen?“, wundert sich mein Begleiter. Wir kommen auch an einem Fußballplatz vorbei, „wie es ihn sonst nirgends in der Welt gibt“. An jeder Ecke befindet sich ein Bunker. Wie allerdings während eines Spiels in 15 Sekunden alle den Schutzraum erreichen sollen, kann ich mir nicht vorstellen.

Nicht weit entfernt befindet sich eine Schule, die durch einen Überbau gegen Raketen gesichert wurde. „Das ist teurer, als wenn man eine neue Schule baut“, bemerkt Shrybman. Noch immer haben nicht alle Ausbildungsstätten in Sderot einen ausreichenden Schutz – auch wenn Raketen oft in der Nähe von Schulen oder Kindergärten einschlagen. Dasselbe gilt für die meisten Wohnhäuser, wirklich sichere Bunker können sich nur wenige Bürger leisten.

Ein Laden, an dem wir vorbeilaufen, musste nach einem Raketeneinschlag schließen. An der Glastür hängen mehrere Zettel mit hebräischen Aufschriften. Auf einem wird Gott dafür gedankt, dass bei dem Angriff niemand zu Tode kam: „Gesegnet seist Du, der Du mir an diesem Ort ein Wunder getan hast.“ Auf einem weiteren Blatt heißt es: „Der heilige Name sei gepriesen in Ewigkeit. Amen.“ Außerdem wird verkündet: „Wir vergessen nicht… Hier wurden durch ein Wunder vier Menschen gerettet.“ Daneben das Datum nach dem jüdischen Kalender: „Raketeneinschlag am 18. Cheschwan 5767“ – also am 9. November 2006.

Bei der Polizei besichtigen wir eine Sammlung von Kassam-Raketen, die in Sderot und Umgebung gelandet sind. Die Farben deuten auf ihre Urheber hin, erläutert Jacob Shrybman. Grün und rot stehe für die Hamas, gelb für die Fatah. Alle Farben sind hier vertreten. Die Sicherheitskräfte haben auf jedem Geschoss den Tag des Einschlags vermerkt.

Israelischer Strom für den Gazastreifen

Zum Abschluss der Führung besteigen wir einen Hügel am Rande der Stadt, von dem aus der Gazastreifen zu sehen ist. Das palästinensische Gebiet ist von hier aus nur einen Kilometer entfernt, es gibt keinerlei Schutzvorrichtung gegen Angriffe. Nur der Grenzzaun fällt auf, dort patrouillieren regelmäßig israelische Soldaten. Shrybman weist mich auf ein Kraftwerk rechts in der Ferne hin. Es befindet sich in der israelischen Küstenstadt Aschkelon, die mittlerweile auch in die Reichweite der palästinensischen Raketen gerückt ist. „Dort wird ein großer Teil des Stromes für den Gazastreifen produziert“, sagt Shrybman.

Im Medienzentrum bitten Christen aus den USA um einen zweiminütigen Kommentar vor der Kamera. Das übernimmt Noam Bedein, der Leiter der Non-Profit-Organisation. Es sei ein Ziel des Zentrums, den Menschen beizubringen, sich selbst auszudrücken. Deshalb hätten sie in den vergangenen fünf Monaten 40 Mädchen beigebracht, über ihre Realität zu berichten. Dadurch wollen sie etwas gegen das Ungleichgewicht in der Berichterstattung unternehmen.

Schneckenhäuser zum Schutz gegen Raketen?

Bedein erzählt auch von einem Kindergarten, in dem Vier- und Fünfjährige etwas über Schnecken lernten. Auf die Frage, warum die Tiere wohl ein Haus haben, antworteten die Kinder einmütig: „um sich gegen Kassams zu schützen“.

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