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Schwarzrotes Morgengrauen

Der von langer Hand und höchst professionell vorbereitete Überfall auf Kerem Schalom und die Entführung eines israelischen Soldaten waren der Strohhalm, der dem Kamel das Rückgrat gebrochen hat. Die Freilassung des 19-jährigen Gilad Schalit hat oberste Priorität, weil sie als Ziel politischer Anstrengungen ein persönliches Angesicht trägt. Aber aus Sicht der Einwohner des Grenzstädtchens Sderot am Nordostende des Gazastreifens ist ein Einmarsch der Armee in das nur wenige Hundert Meter entfernt liegende palästinensische Autonomiegebiet seit langem überfällig.

Im frommen Talmud-Gymnasium zeigt ein Angestellter der Stadtverwaltung, wie eine Kassamrakete das Dach und zwei Wände durchschlagen hat. „Nur durch ein Wunder“, da sind sich die Einwohner einig, „ist die Rakete nicht explodiert.“ „Und weil die Schüler gerade beim Beten waren, wurde niemand verletzt.“ Bereits Wochen vor den großen Sommerferien sind in Sderot alle Kindergärten und Schulen geschlossen, „weil wir für die Sicherheit nicht garantieren können“, meint Eli Mojal. Der 56-Jährige ist seit acht Jahren Bürgermeister der traditionell eher verschlafenen Kleinstadt, die früher höchstens einmal als Elendsviertel des Landes in die Schlagzeilen geriet.

Über der israelischen Grenze zum Gazastreifen schwebt ein Zeppelin als sichtbares Zeichen des Frühwarnsystems der israelischen Armee. Wenn dessen Sensoren einen Raketenabschuss ausmachen und die Sirenen in Sderot aktivieren, „bleiben genau 20 Sekunden Zeit“, erklärt Eli Mojal. „Dann kann man den Einschlag hören. In der Zwischenzeit bleibt nur das Gebet.“ Der elektronische Grenzzaun hilft gegen Selbstmordattentäter, aber nicht gegen Raketen und Mörsergranaten. „Gestern waren es 15 Raketen, die hier gelandet sind. Und das war noch ein leichter Tag.“

Bisher fünf Tote

Seit April 2001 sind mehr als 3.000 der primitiven Raketen „Made in Palestine“ im israelischen Negev um den Gazastreifen herum eingeschlagen. Bürgermeister Mojal hat eine „Kassam 2“ in seinem Büro zu Demonstrationszwecken ausgestellt und zeigt sie vor den Bildern derjenigen, die durch solche „mit Sprengstoff gefüllten Ofenrohre“ ums Leben kamen. Dass es bislang „nur“ fünf Menschen in Sderot waren, die durch Kassam-Raketen das Leben verloren haben, wird als Wunder gewertet – wie die Einwohner von Sderot überhaupt viele Kassamwundergeschichten parat haben.

Das Warnsystem trägt den Codenamen „Schachar Adom“, „rotes Morgengrauen“. Vor dem Wohnhaus von Amir Peretz, dem israelischen Verteidigungsminister, der aus Sderot stammt, demonstrieren hungerstreikende Nachbarn. Sie haben das „rote Morgengrauen“ in „Schachor Adom“, „Schwarz-Rot“, umbenannt, und verteilen schwarz-rote Bändel, um auf ihre unerträgliche Situation aufmerksam zu machen.

Enttäuscht von Regierung

Enttäuscht prangern sie die Aktionslosigkeit ihrer Regierung und der Armee an: „Der Verteidigungsminister verteidigt uns nicht, nicht einmal seine eigene Frau und Kinder.“ Die 32-jährige Simcha Hadad, Mutter von drei kleinen Kindern, macht ihrer Wut über den prominenten Nachbarn Luft. „Kassams töten!“, „Stoppt die Kassams, lasst uns nachts schlafen!“ und „Wann geht über uns die Sonne auf?“ malen die Demonstranten schwarz-rot auf Plakate.

Durch die palästinensischen Raketen ist die Stadt, deren Einwohner früher lediglich darüber klagten, dass sie am Ende der Welt in Vergessenheit geraten seien, zum Kriegsschauplatz geworden. Die Hoffnung, der israelische Rückzug aus dem Gazastreifen würde Ruhe für die angrenzenden Ortschaften mit sich bringen, hat sich als Illusion erwiesen. „Seit Israel den Gazastreifen verlassen hat, haben wir hier mehr als 500 Raketenangriffe ertragen.“ Der Bürgermeister von Sderot wartet mit statistischen Werten auf. „Seit August 2005 haben wir hier im Schnitt 80 Kassam-Raketen pro Monat abbekommen.“

„Rückzug war gigantischer Fehler“

Eli Mojal weiß keine Erklärung dafür: „Wir haben keinen einzigen Quadratzentimeter mehr in Gaza. Warum schießen sie auf uns? Sie hassen uns einfach nur.“ Der ehemalige israelische Verteidigungsminister Mosche Arens ist in seiner Analyse weniger zurückhaltend: „Das gesamte Rückzugsprojekt aus Gaza war ein einziger, gigantischer Fehler!“

Die psychologischen Folgen des seit Jahren andauernden täglichen Raketenbeschusses sind noch nicht abzuschätzen und werden noch Jahre nachwirken. „Die Hälfte unserer Kinder leidet unter einem Trauma“, meint Mojal. Wie das konkret aussehen kann, beschreibt die Mutter der Familie Avitbul: „Meine Tochter geht aus Angst nicht mehr alleine auf die Toilette.“ Die Avitbuls gehen jetzt nach Aschkelon, „wegen der Kinder und um etwas zur Ruhe zu kommen“.

Eli Mojal will seinen palästinensischen Nachbarn diese Freude nicht bereiten und weggehen: „Wir werden hier bleiben, nicht weil wir stark sind, sondern weil wir im Recht sind“, erklärt er und ruft seinen Mitbürgern zu: „Bleibt, haltet aus, auch wenn es lange dauern wird!“

„Sderot oder Beit Hanun“

Was der Bürgermeister von Sderot aber seiner Regierung zu sagen hat, klingt wie ein Widerspruch zu seiner Durchhalteparole. Mojal will keine weiteren Schutzmaßnahmen, Bunker, Betonmauern oder hoch technisierten Vorwarnsysteme. Seine Botschaft an die israelische Regierung ist: „Ihr müsst euch entscheiden zwischen Beit Hanun oder Sderot!“ Die ersten Häuser des palästinensischen Beit Hanun liegen nur wenige Hundert Meter vom Stadtrand von Sderot entfernt. Die Plantagen von Beit Hanun dienen als Abschussgelände für die Kassamraketen.

Mojal wirft der Regierung Olmert vor, sich durch ihre grenzenlose Verhandlungsbereitschaft dem Terror zu beugen. Seiner Ansicht nach hat die Regierung die Pflicht, Sicherheit zu garantieren, auch wenn das bedeutet, Beit Hanun zu zerstören. Deshalb hat er im Büro des Premierministers persönlich die Botschaft überbracht: „Zerstört Beit Hanun oder Sderot wird zur Geisterstadt.“

Bislang hat die israelische Armee in ihrem Kampf gegen den Kassamraketenhagel versagt. Die Sicherheitslage der israelischen Ortschaften um den Gazastreifen herum hat sich seit dem Rückzug Israels im August letzten Jahres dramatisch verschlechtert. Der Kommentator Se´ev Schiff von der linksliberalen Tageszeitung „Ha´aretz“ befürchtet regionale Auswirkungen: „Das Versagen im Kampf gegen die Kassamraketen ist eine Einladung an die Hisbollah“, die seit dem israelischen Rückzug aus dem Südlibanon im Mai 2000 ihr Arsenal aufgestockt hat und vermutlich Zehntausende von sehr viel gefährlicheren Katjuscharaketen für Angriffe auf Nordisrael bereithält.

(Foto: Johannes Gerloff)

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