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Schnorren und Adoptieren: Wie Israelis die Armut angehen

„Bitte, findet eine Familie oder ein Kinderheim für mich, denn meine Mama hat kein Geld für Essen und der Kühlschrank ist leer, und es fällt mir schwer, immer Hunger zu haben“, schreibt die 10-jährige Bat-El in einem Brief an die Hilfsorganisation „Tachlit“.

Mit Aaron Cohen, dem Direktor von „Tachlit“, fahre ich durch das judäische Bergland zu Bat-El nach Hause. Ihre Mutter Hanna öffnet die Tür. Bat-El führt uns durch die Wohnung, zeigt uns die Küche und den leeren Kühlschrank. Die ultra-orthodoxe Hanna erzählt, wie ihr Mann sie mit acht Kinder hat sitzen lassen – und von der Schande und der Scham, die damit verbunden ist, die eigenen Kinder nicht versorgen zu können.

Aaron Cohen versteht sie sehr gut. Seine Eltern sind aus Persien eingewandert. Er ist im Umfeld des ultra-orthodoxen Viertels Mea Schearim in Jerusalem geboren und aufgewachsen. „Ich weiß, was Armut ist“, sagt er und erzählt, wie der neunköpfigen Familie zwei Zimmer zur Verfügung standen. Das Klo war draußen auf dem Hof.

Nach dem Militärdienst wird er Geschäftsmann und schafft es, die Armut abzuschütteln. Trotz der Nähe zu Mea Schearim war er nicht religiös aufgewachsen. „Ich hatte die Religion hinter mir gelassen.“ Erst durch seine Heirat vor achteinhalb Jahren hat der Vater von mittlerweile sieben Kindern zum Glauben seiner Väter zurückgefunden.

Obwohl Aaron Cohen für sich selbst das Problem Armut gelöst hat, lässt ihn seine eigene Vergangenheit nicht los. Hanna und Bat-El sind kein Einzelfall in Israel. Eine Untersuchung des israelischen Gesundheitsministeriums im Jahre 2003 ergab, dass 22 Prozent der israelischen Familien zu arm sind, um eine ausgewogene und für die gesunde Entwicklung ihrer Kinder notwendige Ernährung sicherstellen zu können. 60 Prozent der „ernährungsunsicheren“ Familien sind alteingesessene jüdische Familien, 20 Prozent arabische und 20 Prozent Neueinwandererfamilien. Eine Studie des Brookdale Instituts vom Februar 2004 besagt, dass 20 Prozent der israelischen Rentner unter Hunger leiden, mehr als 14 Prozent gar vom Verhungern bedroht sind.

„Ich wollte immer geben“, erinnert sich Aaron Cohen, denn: „Geben ist Empfangen.“ Und Aaron wollte nicht nur klagen, sondern etwas Konkretes tun. Nicht ums Reden, sondern um „Tachles“ geht es ihm. Deshalb gründet er die Organisation „Tachlit“, die 1997 bei der israelischen Regierung als gemeinnützige Organisation eingetragen wird. „Es gibt jemanden, der deine Brotkrumen braucht!“, steht auf der Visitenkarte, die ihn als Chefschnorrer, heute würde man sagen „Fundraiser“, oder eben „Direktor“ von „Tachlit“ ausweist.

In seinem bescheidenen Büro, das mit Aktenordnern vollgestopft ist, erzählt Aaron Cohen von dem Vater, der mit fünf Kindern in einem Hühnerstall wohnt; von der Familie mit sieben Kindern, von denen fünf autistisch sind; von dem Jungen, der sich aus Verzweiflung und weil er einen Zahnarzt nicht bezahlen konnte, selbst einen Zahn mit der Beißzange gezogen hat. Ein Kind starb noch vor der Geburt, weil sich seine werdende Mutter nicht richtig ernähren konnte.

Dann kommt er auf den arbeitslosen Tourguide zu sprechen, dessen Frau vor kurzem an Krebs gestorben ist. Er berichtet von einem Ehepaar, das seinen 17-jährigen Sohn in einem Terroranschlag verloren hat. Der Verlust traf sie so hart, dass sie ihrer Arbeit nicht befriedigend nachgehen konnten und entlassen wurden.

Im Jerusalemer Stadtteil Kirjat Menachem leben vier Kinder im Alter von acht bis 14 Jahren, deren Mutter im letzten Jahr durch einen Busbombenanschlag ums Leben kam. Zwei Wochen später starb ihr Vater in einem Brand. Jetzt leben sie bei der Großmutter, die aber nicht für ihren Unterhalt aufkommen kann. Auch diese Tragödie ist kein Einzelfall: Der Vater einer anderen Familie mit sechs Kindern wurde von Terroristen erschossen. Wenige Monate später starb ihre Mutter an Krebs.

Die Liste der Elendsfälle nimmt kein Ende. Während er redet und ich meine Notizen mache, klingelt das Telefon. Aaron stellt das Telefon laut und ich kann mithören, wie eine Familie mit sechs Kindern darüber klagt, dass man ihnen den Strom abgestellt hat, weil sie die Rechnung nicht bezahlen konnten. Alte und Behinderte, Religiöse und Säkulare, Juden und Nichtjuden, Terrorgeschädigte, Neueinwanderer und Alteingesessene bitten Hilfe. Die Armut macht vor keinem Halt und hat viele Gesichter.

Seit „Tachlit“ zu einem Begriff in der israelischen Öffentlichkeit geworden ist, schicken Sozialarbeiter Leute, deren Lage bereits überprüft wurde, erzählt Aaron Cohen, und: „In den vergangenen zweieinhalb Jahren kommen immer mehr ehemalige Spender und bitten für sich selbst um Hilfe.“ Ein Grund dafür ist der radikale Sparkurs von Finanzminister Benjamin Netanjahu. Für einen Geschäftsführer untypisch traurig meint Aaron Cohen: „In den vergangenen 18 Monaten ist unser Umsatz um das Vierfache gestiegen.“

Aaron erinnert sich, wie er als Kind in der langen Schlange von Hilfesuchenden bei der Essensausgabe anstehen musste, wie demütigend und erniedrigend das war. Deshalb ist er auf die Idee gekommen, den Armen statt Suppenküchen Coupons zu geben. Mit den Gutscheinen können sie dann in bestimmten Supermärkten das bekommen, was sie brauchen.

Wie schützt sich „Tachlit“ vor dem Missbrauch solcher Coupons? – „Nicht für Zigaretten“ steht auf dem Gutschein. „Außerdem“, erklärt Aaron Cohen, „kenne ich viele Händler persönlich. Da kommt es schon vor, dass sie mich direkt anrufen, wenn jemand Zigaretten, Alkohol oder Luxusgüter für unsere Gutscheine haben will.“

Auf der Rückfahrt von Hanna und Bat-El ist Aaron Cohen nachdenklich. „Du musst verstehen, dass wir als Hilfsorganisation zur Übertreibung neigen“, gesteht mir der ultra-orthodoxe Jude ehrlich ein. „Ich glaube nicht, dass der Zustand in Israel so ist, dass wirklich jemand verhungert. Ganz oft sind soziale und psychische Probleme der Grund dafür, dass die Leute nicht zurechtkommen.“^

Deshalb hat „Tachlit“ eine Idee aufgegriffen, die nach der Veröffentlichung des Armutsberichts im Jahr 2003 populär wurde: „Familien adoptieren Familien“. In diesem Adoptionsprogramm werden arme Familien mit solchen in Verbindung gebracht, die genug haben und bereit sind, abzugeben. Im Rahmen persönlicher Beziehungen werden ganz direkt Nahrung und Kleidung weitergegeben oder Arztrechnungen beglichen. Manche helfen ihren „Adoptivfamilien“ bei der Wohnungs- oder Arbeitssuche. Andere haben den Kindern einen Computer gekauft, Ausbildungskosten übernommen oder eine Putzfrau bezahlt.

„Vor einiger Zeit“, erzählt Esther, eine der Mitarbeiterinnen von „Tachlit“, „hat bei uns eine behinderte Frau angerufen. Sie habe Hunger, kein Geld, sich Essen zu kaufen und müsse dabei dauern riechen, wie ein paar Stockwerke unter ihrer Wohnung ein Restaurant betrieben werde. Da haben wir einfach den Restaurantbesitzer angerufen und ihm die Lage geschildert. Seither darf die Frau kostenlos in der Gaststätte essen.“

Esther und ihre Kolleginnen, darunter eine Rechtsanwältin, scheuen keine Mühe, um die richtigen Partner zur Bekämpfung der Armut zu finden. „Das muss einfach passen. Das ist so kompliziert wie beim ,Schiduch‘, bei der Ehevermittlung.“ Im Unterschied zu einer Heirat haben die Familienadoptionen in der Regel aber keinen offenen Ausgang, sondern sind zeitlich begrenzt. Dadurch sollen Abhängigkeiten vermieden und den Notleidenden geholfen werden, auf eigenen Füße zu stehen. Entscheidend ist jedoch, dass durch solche Familienadoptionen verhindert wird, dass Familien, wie die von Bat-El, durch die wirtschaftliche Notlage auseinander gerissen werden.

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