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Salafiten im Gazastreifen – Die „wahren Gottesstreiter“

Aus dem Augenwinkel heraus hatte ich schon seit einiger Zeit beobachtet, wie mir der hochgewachsene Mann mit dem schütteren Bart nachlief. Die Omar-Al-Mukhtar-Straße im Zentrum von Gaza-Stadt ist am Spätnachmittag voller Menschen. Die meisten verfolgen so zielstrebig, wie es die allgemeine orientalische Gemächlichkeit zulässt, ihre Geschäfte. Doch der Herr in der traditionellen Ghalabiye, dem nachthemdartigen Gewand der Araber, der sich die Kefiye, das weiße Kopftuch, lose um den Kopf gewunden hatte, suchte offensichtlich den Kontakt mit mir.

„Woher kommst Du?!“, verwickelt er mich in ein Gespräch, auf das ich mich einlasse, weil mich interessiert, was der sprichwörtliche „Mann auf der Straße“ so denkt. Ohne lange Umschweife kommt er dann bald zur Sache: „Bekehre Dich zum Islam! Der Islam ist die höchste Stufe der wahren Religion. Das haben viele intelligente Menschen erkannt. Viele Intellektuelle, hoch gebildete Professoren bekehren sich heute zum Islam, weil sie die Wahrheit erkennen. Deshalb ist der Islam auch die am schnellsten wachsende Religion.“ Das missionarische Feuer ist unübersehbar. Nur mit dem Argument, dass schon der Prophet Mohammed betont habe, dass „in der Religion kein Zwang“ sein dürfe (Koran, Sure 2,256), schüttelte ich die erste Salafiten-Bekanntschaft meines Lebens ab. Dass ich mich erst nach reiflicher Überlegung und nicht aufgrund seines Drängens der Wahrheit anschließen wolle, fand er gut und ließ mich in Ruhe.

Die „Salafiten“ betrachten die „frommen Vorfahren“ des frühen Islam als Vorbilder dafür, wie der Islam auch heute noch in der Praxis umgesetzt werden sollte. Solch ein „frommer Vorfahre“ oder „gerechter Ahne“ heißt auf Arabisch „Salaf“. Nach Vorstellung des „Salafismus“ war der Islam in den Tagen Mohammeds und seiner Gefährten vollkommen. „Der Weg des Salaf“ ist nach Meinung der Salafiten über jede Kritik erhaben und für jeden Menschen verbindlich, weil er „nichts als die Wahrheit“ ist. Die wörtliche Auslegung des Koran und der Haddith ist deshalb für den Salafismus grundlegend. In späterer Zeit, so die Vorstellung der Salafiten, deformierten materialistische und kulturelle Einflüsse den ursprünglich perfekten Islam.

Ziel ihrer Bewegung ist es nun, die erste, unverfälschte, ursprüngliche und perfekte Form islamischer Praxis und islamischen Glaubens zu neuem Leben zu erwecken. „Jede Innovation“ halten die Salafiten für „eine Verführung“, die zum Abfall vom wahren Glauben verleitet. Im Gegensatz zum klassischen Islamismus lehnt der Salafismus nicht nur westliche Ideologien grundsätzlich ab, sondern auch Konzepte wie Wirtschaft, Verfassung, politische Parteien und Revolution. Deshalb ist die Hamas aus dieser Perspektive verweltlicht. „Die Führer der Hamas glauben nicht an Allah!“, erklärte ein Anführer der salafitischen „Jaish al-Ummah“ („Armee der Gemeinschaft der Gläubigen“) einem palästinensischen Journalisten.

Die Al-Qaida ist eine Splittergruppe des militanten, „jihadischen“ Salafismus – weshalb die Salafiten im Gazastreifen oft als „Al-Qaida nahestehend“ charakterisiert werden. Allerdings muss bemerkt werden, dass eine breite Strömung innerhalb des Salafismus als Mittel der Reform des Islam vor allem die „Dawa“ sieht. „Dawa“ kann frei mit „Evangelisation“ oder „Missionierung“ übersetzt werden. In Gaza gehen die Dawa-Prediger in ihrer eigenartigen Kleidung, die „an die Taliban in Afghanistan erinnert“, von Tür zu Tür und versuchen, mit ihren Landsleuten über den wahren Islam zu reden. Politischen Diskussionen oder Gesprächen über „den zionistischen Feind“ gehen sie aus dem Wege. Auf diese Weise sollen die Salafiten im Gazastreifen mittlerweile zwischen 40.000 und 50.000 Anhänger haben.

Im Sommer 2007 wurde die Weltöffentlichkeit erstmals auf den Einfluss dieser extremen Strömung des Islam im Gazastreifen aufmerksam. Eine mysteriöse „Jaish al-Islam“ („Armee des Islam“) hielt den britischen Journalisten Alan Johnston fast vier Monate lang gefangen. Bald wurde klar, dass die mächtige, hochgerüstete Dughmoush-Familie hinter der „Armee des Islam“ stand. Die ebenfalls nebulösen „Volkswiderstandskomitees“ vermittelten zwischen Hamas und dem Dughmoush-Clan. In einem komplizierten Prozess, zu dem weitere Geiselnahmen und dann Freilassungen gehörten, kam der BBC-Korrespondent schließlich frei. Doch die Geschichte bedeutete den Bruch zwischen Hamas und der ursprünglich mit ihr verbündeten „Jaish al-Islam“, die ein Jahr zuvor gegründet worden war.

Im Oktober desselben Jahres wurde dann der Leiter des Buchladens der Bibelgesellschaft am Palästina-Platz in Gaza-Stadt, Rami Ayyad, entführt und ermordet. Eine Gruppe bekannte sich unter dem Namen „rechtschaffenes Schwert des Islam“ zu der Tat. „Dem Westen ist leichter zu erklären, dass die Hamas schuld ist“, erklärte mir ein Mitarbeiter der Palästinensischen Bibelgesellschaft, als ich ihn darauf aufmerksam machte, dass die Hamas doch zum gegenwärtigen Zeitpunkt überhaupt kein Interesse an einer Christenverfolgung habe. Rami war mehrfach dazu aufgefordert worden, seinem Glauben abzuschwören – und hatte sich geweigert. Nach eigenen Aussagen sehen sich Salafiten dazu verpflichtet, diejenigen zu töten, die sich gegen die Wahrheit sträuben.

Es war offensichtlich, dass die Ermordung des bekennenden Christen im Zusammenhang mit einer ganzen Serie von Bombenanschlägen auf Cafés, Friseursalons, Internetshops, Restaurants und Schulen stand, die sich über Monate hinzog und der herrschenden Hamas sehr viel mehr Schaden zufügte als Nutzen erbrachte. Selbst der israelische Feldzug „Gegossenes Blei“ zur Jahreswende 2008/2009 und die damit verbundenen massiven Luftangriffe auf den Gazastreifen konnten den Eifer der islamischen Glaubenskämpfer nicht dämpfen. Unweit des „Denkmals des unbekannten Soldaten“ in Gaza-Stadt wurden kurz nach Ende der israelischen Luftangriffe durch einen Bombenanschlag auf ein Café sieben Palästinenser verletzt.

Mittlerweile wird auch ein Bombenanschlag Mitte Juli auf eine Hochzeitsgesellschaft des Dahlan-Clans in Khan Younis, bei dem 50 Menschen verletzt wurden, von der Hamas den Salafiten zur Last gelegt. Diese bestreiten allerdings die Verantwortung für den Anschlag. Die Fatah, zu deren herausragenden Führern Mohammed Dahlan, der Onkel des unglücklichen Bräutigams gehört, legt die Bluttat der Hamas zur Last. So war es in den vergangenen Jahren immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen den Salafiten und der herrschenden Hamas-Bewegung gekommen. Die Salafiten bemühen sich vor allem um die Kontrolle von Moscheen und Schulen.

Doch erst Mitte August kam es im Brazil-Viertel der Stadt Rafah, direkt an der Grenze zu Ägypten, zur Eskalation. Scheich Abdel Latif Moussa verkündete um die Mittagszeit in der „Scheich al-Salam Ibn Taymeya-Moschee“, als deren Imam er fungierte, „eine neue Geburt, die Geburt des islamischen Emirats!“ Moussa war der geistliche Anführer der „Jund Ansar Allah“ („Soldaten der Gefährten Allahs“), einer salafitischen Gruppe, die im November 2008 gegründet worden war und sich rühmte, 500 Kämpfer zu haben, darunter einige Ausländer. Dr. Abdel Latif Moussa, in salafitischen Kreisen besser bekannt als Abu al-Nour al-Maqdessi, wähnte sich in der Lage, die theokratische Herrschaft über Palästina von Rafah aus deklarieren zu können.

Umgeben von teils maskierten, schwer bewaffneten Kriegern verklagte der 47-jährige Prediger vor laufender Fernsehkamera die herrschende Hamas, die „Scharia“, das islamische Recht, nicht konsequent durchgesetzt zu haben. Nach den Maßstäben der Scharia müssen Ehebrecher gesteinigt, Dieben muss die Hand abgehackt und wer Alkohol trinkt, muss ausgepeitscht werden. Dann gelobte der Scheich, der auch Arzt für Allgemeinmedizin und medizinischer Direktor des „Rafah Martyrs Medical Centre“ war, dem Führer der Al-Qaida, Osama Bin Laden, die Treue.

Unmittelbar nach Beendigung der Nachmittagsgebete kam es im Umfeld der Ibn Taymeya-Moschee zu Schießereien. Die Hamas hatte massiv Sicherheitskräfte und Einheiten der Issadin-Al-Qassam-Brigaden um das Gebetshaus zusammengezogen. Unabhängige Berichte gibt es von dem darauf folgenden Geschehen keine. Das Innenministerium der Hamas hatte erklärt, um „der allgemeinen Sicherheitslage“ willen sei die Stadt Rafah und ihre Krankenhäuser für Journalisten geschlossen. Kurze Zeit später wurde auch das vierstöckige Wohnhaus von Moussa von der Hamas-Polizei umzingelt. Es folgten heftige Feuergefechte, bei denen auch schwere Geschütze eingesetzt wurden. Mindestens zehn Mörsergranaten landeten auf dem nahe gelegenen ägyptischen Territorium. Ein ägyptisches Kind wurde von einer Gewehrkugel getroffen.

Stundenlang konnten Abu al-Nour al-Maqdessi und seine Kämpfer der Übermacht der Hamas standhalten. Dann zeigte die Hamas der Welt, wie man mit „gesetzlosen bewaffneten Gruppierungen“ umgeht und sprengte den Wohnkomplex des Imam „einfach mit allen Menschen, die darin waren“ – so eine Version. Die Hamas behauptete später, Dr. Abdel Latif Moussa habe sich selbst, seine Familie und einige seiner Getreuen mit einem Sprengstoffgürtel in die Luft gesprengt. Die unabhängige palästinensische Nachrichtenagentur Ma’an vermutete, die Explosion sei noch verstärkt worden, durch Sprengstoff, der im Wohnhaus des Scheikhs gelagert habe.

Bis zum Abend dieses Augustfreitags verkündete die Hamas, 90 Salafiten in Rafah verhaftet zu haben. Trotzdem dauerten die Schießereien noch bis zum Abend des darauffolgenden Tages. Zweimal waren laute Explosionen zu hören. Jund-Ansar-Allah-Kämpfer sollen sich in der Nähe von Hamas-Polizisten in die Luft gesprengt haben. Maskierte Hamas-Kämpfer dehnten die Verfolgung der Salafiten dann auf den gesamten Gazastreifen aus. Am Sonntagnachmittag umzingelten Sicherheitskräfte der Hamas ein Haus des Dughmoush-Clans in Gaza-Stadt und verlangten von der Sippe, ein Mitglied auszuliefern, dem Al-Qaida-Mitgliedschaft und der Mord an einem Mitglied eines mit der Hamas liierten Familien während der Unruhen in Rafah vorgeworfen wird.

Das „Palästinensische Zentrum für Menschenrechte“ (PCHR) geht von 28 Toten und mindestens 150 Verletzten aus. Das Innenministerium der Hamas bestätigte 24 Tote, darunter sechs Hamas-Offiziere und ein 11-jähriges Mädchen. Mehrere Todesopfer konnten nicht identifiziert werden. Hamas-Premierminister Ismail Haniye hatte in der Woche vor dem Massaker von Rafah noch vehement israelische Medienberichte bestritten, islamische Kämpfer aus Afghanistan, Pakistan und dem Irak wären über den Sinai in den Gazastreifen eingesickert.

Außer Dr. Moussa und seinem Assistenten Abu Abdullah As-Suri wurde auch einer der höchsten Kommandeure der Hamas, Muhammad „Abu Jibril“ al-Shamali bei dieser innerislamischen Auseinandersetzung getötet. Shamali hatte die Issadin-Al-Kassam-Brigaden, den militärischen Arm der Hamas, im Südabschnitt des Gazastreifens befehligt. Nach israelischen Erkenntnissen war er im Sommer 2006 maßgeblich an der Entführung des israelischen Soldaten Gilat Shalit beteiligt.

Hamas-Sprecher Taher a-Nunu stellte klar, die Hamas werde Gesetzlosigkeit und Anarchie kein Come-Back im Gazastreifen erlauben. Man werde die Präsenz von konkurrierenden islamistischen Gruppierungen im Gazastreifen nicht tolerieren und Versuche, solche Gruppierungen einzurichten, mit eiserner Faust verhindern. Außerdem beschuldigt die Hamas die säkulare und vom Westen unterstützte Fatah und „einige arabische Staaten“, über die Salafiten ihre Herrschaft im Gazastreifen destabilisieren zu wollen. So genannte „Al-Qaida-Internetseiten“ warnten derweil ihre Leser, sich von den Moscheen, dem Parlament und besonders den Militärgerichten „der Abgefallenen“ fernzuhalten.

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