Rid stellt die Frage: "Was würde passieren, wenn die Vereinten Nationen tatsächlich einen Staat Palästina anerkennen?" Seine Antwort: "Was auch immer im Herbst geschehen wird, der Konflikt wird nicht enden. Diese Annahme ist eigentlich keine Annahme – es ist eine unumstößliche Tatsache, und die Anschlagsserie am Donnerstag liefert einen weiteren Beweis. Doch können zu viele Menschen diese Tatsache intellektuell und psychologisch scheinbar nicht hinnehmen. Warum? Weil ansonsten die hehre Hoffnung vom baldigen Frieden, von der ‚Zweistaatenlösung‘ und vom ‚Endstatus‘ allzu entrückt scheint. Denn in die aufgeklärte westliche Seele, in Amerika sowie in Europa, wurde eines fest eingebrannt: Fortschritt ist möglich. Angefangenes wird gefälligst zu Ende gebracht. Probleme werden gelöst."
Der Autor wendet sich in dem Beitrag "Der Traum trügt" gegen die Auffassung, die israelischen Siedlungen seien das größte Hindernis für einen Frieden im Nahen Osten: "Zu viele Beobachter in den USA und Europa sind davon überzeugt, dass die Siedlungen – und allein die Siedlungen – das Haupthindernis für den Frieden und die Errichtung eines palästinensischen Staates seien. Nach dem Motto: Sind die Siedler erst raus, dann gibt’s Frieden. Wer die Grundannahme dieses Arguments teilt, der steht moralisch sofort auf der sicheren Seite: Fortschritt bleibt möglich. Frieden ist greifbar – wenn nur diese Siedler nicht wären. Das Problem dabei ist: Mit der Realität hat all das wenig zu tun. Denn die Grundkonstanten werden von israelischer Siedlungspolitik nicht entscheidend verändert, nur verdeckt."
"Staatsgründung würde nichts verändern"
Selbst wenn alle Siedler das Westjordanland verlassen sollten, womit nicht zu rechnen sei, blieben nach Rids Ansicht die Grundkonstanten des Konfliktes erhalten: "Israel würde wahrscheinlich auf einer militärischen Präsenz im Jordantal bestehen. Es bliebe unklar, wie Jerusalem und die heiligen Stätten der Stadt aufgeteilt würden. Das Rückkehrrecht würde ein kontroverses Thema bleiben." Doch Israel stünde noch mehr im Blickpunkt der internationalen Kritik, weil es nun einen Staat besetzt hätte.
Auch im Palästinensergebiet würde sich durch die Staatsgründung nicht viel ändern, schreibt der Politikwissenschaftler. "Vor allem würde die Hamas weiterhin im Gazastreifen herrschen." Die Angriffe auf südisraelische Ortschaften gingen weiter, möglicherweise würden sie sich sogar gegen die Hamas richten. "Aber früher oder später würden die israelische Mitte und sogar die Rechte feststellen, dass ihre schlimmsten Ängste nicht wahr geworden sind. Das Gegenteil geschähe auf palästinensischer Seite: Es bliebe alles mehr oder weniger beim Alten, aber die Enttäuschung darüber würde wachsen, angetrieben durch laute Jubelfeiern über die Anerkennung der staatlichen Unabhängigkeit in den Straßen von Ramallah, Bethlehem, Nablus und womöglich Gaza. Palästina würde vermutlich als ein gescheiterter Staat geboren werden, tief gespalten, weiter besetzt, nicht wirklich souverän."
Der Dozent am Londoner "King’s College" fährt fort: "Palästinensische Hoffnungen auf Gerechtigkeit und Frieden würden nicht erfüllt. Palästinenser wären nun aber Bürger mit Erwartungen. Auch die internationale Gemeinschaft würde Fortschritt erwarten. Die palästinensische Führung müsste sehr schnell begreifen, dass auch ein schwacher Staat an Legitimität verlieren kann. Wie gewöhnlich wird dieser Prozess an den radikalen Flügeln der palästinensischen Gesellschaft beginnen – selbst wenn viele die Schuld bei Israel suchen werden."
"Mit Eskalation ist zu rechnen"
Weiter schreibt Rid: "Wir können davon ausgehen, dass die Situation an einer oder mehreren Stellen eskalieren wird, in Gaza, im Norden, in der Westbank, in Israel selbst oder gar überall gleichzeitig. Wenn gar in Jerusalem wieder Bomben in Restaurants und Bussen explodieren, wenn Raketen über Tel Aviv niedergehen, wenn ein Passagierflugzeug beim Anflug auf den Ben-Gurion-Flughafen abgeschossen wird, dann werden selbst skeptische Europäer verstehen, dass Israel keine Alternative hat, als entschlossen zu handeln. Aber künftig müsste es dann gegen einen Staat vorgehen. Niemand, der noch bei klarem Verstand ist, kann ein solches Szenario wollen."
Der israelisch-palästinensische Konflikt sei nie so zentral für die Zukunft der Region (oder für die Zukunft des Dschihadismus) gewesen, wie viele westliche Experten lange behauptet hätten, meint der Autor – "in unheimlicher Übereinstimmung mit vielen der nun stürzenden Despoten der Region. Der arabische Frühling der Revolten hatte innenpolitische Gründe in den jeweiligen Ländern. Nirgends wurden die arabischen Aufstände vom israelisch-palästinensischen Konflikt angefacht."
Die Palästinenser würden nach Rids Auffassung nicht von einem eigenen Staat profitieren. "Und zu viele Menschen auf beiden Seiten müssten einen zu hohen Preis bezahlen." Sein Fazit: "Abbas zündelt mit seinem UNO-Vorstoß. Auf dem Spiel stehen die derzeitige zerbrechliche Ruhe, die Glaubwürdigkeit von Fatah und PLO, gute Beziehungen zu den USA und vor allem finanzielle Unterstützung. Andere palästinensische Politiker werden langsam nervös. Die Europäer sollten den palästinensischen Bluff aufdecken. Sarkozys und Camerons Berater sollten noch einmal in sich gehen und sich an Angela Merkels skeptischer Haltung ein Beispiel nehmen."