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Reportage: Israels Terror-Opfer – Leben im Schatten

„Gott hat alles in seiner Hand!“ Hanna Musai sitzt am Krankenhausbett ihres schwerverletzten Sohnes. Sie bekennt: „Daß ich das heute sagen kann, ist ein Luxus. Das übersteigt jedes Verstehen!“ Der jungen Frau ist anzusehen, daß sie in den vergangenen Wochen viele Nächte durchwacht und durchweint hat. „Und Dvir hat noch einen langen Weg vor sich.“

Am späten Vormittag des 11. Juni 2002, einem Dienstag, hatte Dvir Musai gemeinsam mit etwa 50 weiteren Talmud-Schülern im Alter von 13 bis 15 Jahren bei der Kirschernte mit Hand angelegt. Auf dem Rückweg zum gepanzerten Schulbus explodiert neben dem 13jährigen ein Sprengsatz. Drei der Kinder werden verletzt, Dvir sehr schwer. Ein Armeehelikopter bringt die drei Jungen, Dvir Musai, Eljaschiv Gali und Evjatar Margalit, ins Hadassa-Krankenhaus nach Ein Kerem bei Jerusalem. Die jüdischen Gemeinden beten ganz besonders für „Dvir ben Hanna“.

Die Sanitäter, die Dvir Erste Hilfe leisten und auf dem Weg ins Krankenhaus begleiten sind beeindruckt. Täglich müssen sie Verletzte bergen, oft Kinder. „Dvir ist ein Held!“, erzählen sie den Eltern. Von den anderen Kindern haben viele einen schweren Schock erlitten. Dvir bekommt alles hellwach mit. Er hat furchtbare Schmerzen. Trotzdem fragt er schon im Hubschrauber: „Werde ich meine Beine behalten können?“

Am Abend berichtet die „Deutsche Welle“: „Bei einem Bombenanschlag auf einen israelischen Siedler-Schulbus bei Hebron im Westjordanland wurden drei Jugendliche verletzt. Israel setzte seinen Militäreinsatz im Westjordanland fort…“ Am nächsten Morgen hat der Selbstmordbombenanschlag in der Sokolov-Straße in Herzliya und der Besuch Ariel Sharons in Washington das Schicksal Dvirs schon wieder aus den Schlagzeilen verdrängt.

Die Palästinensische Autonomiebehörde verurteilt den Selbstmordbombenanschlag als „kontraproduktiv für palästinensische Interessen“, bekräftigt aber gleichzeitig „das Recht unseres Volkes, sein Land zu verteidigen und der israelischen Besatzung seines Landes seit 1967 zu widerstehen“. Damit sanktioniert Friedensnobelpreisträger Yasser Arafat den gezielten Mordanschlag auf die Schulklasse, die auf einem jüdischen Feld Kirschen erntete. Einen Tag später ergibt eine Umfrage: 68 Prozent der palästinensischen Bevölkerung ist für Selbstmordbombenanschläge in Israel.

Wenige Monate zuvor war der Eigentümer des Feldes, Menachem Livni aus Kirjat Arba, ums Haar einem ähnlichen Anschlag entgangen. Er hatte die Bombe noch rechtzeitig entdeckt, so daß sie entschärft werden konnte. Seine Kirschbaumplantage mit dem Namen „Sdeh Kalev“, „Feld Kalebs“, ist mindestens seit 1936 nachweislich in jüdischem Besitz. Die einheimischen Araber nennen es seit Menschengedenken „Ard al-Yahoud“, das „Land des Juden“.

Für die Weltöffentlichkeit ist Dvir einer unter vielen, der 11. Juni 2002 Geschichte. Für die Hanna und Motti Musai und ihre Familie ist der 1. Tammus 5762 nach jüdischer Zeitrechnung ein Tag, der ihr Leben für immer verändert hat.

Motti ist Direktor einer Grundschule in Kirjat Arba und selbst schon im Land Israel geboren. Seine Familie stammt ursprünglich aus Persien. Hanna wurde in den USA geboren, ihr Vater stammt aus Südafrika. 1971 kam sie mit ihrer Familie nach Israel. 1985 heiratete sie Motti. Seit 1987 leben die Musais in Beit Haggai, einer kleinen jüdischen Siedlung südlich von Hebron. Dort wurde Dvir als drittes von sechs Kindern geboren. Dort arbeitet Hanna als Sekretärin eines Jugenddorfes für schwererziehbare Kinder.

„Dvir lebt!“ Dafür ist Hanna von Herzen dankbar. Ihr Sohn wurde durch den Bombenanschlag an beiden Beinen und im Unterleib sehr schwer verletzt. „Es ist ein großes Wunder, daß er seine Beine behalten konnte“, bekennt sie. Bislang hat der Teenager vier Operationen durchgestanden. Die fünfte steht unmittelbar bevor. Die entscheidende Unterleibsoperation ist erst in ein paar Monaten möglich.

Seit dem Anschlag konnte Dvir nur drei Tage etwas essen. Jetzt kann er weder Essen noch Trinken zu sich nehmen und muß intravenös ernährt werden. Sein ganzer Unterleib wurde so zerfetzt, daß keinerlei Nahrungsmittel abgeführt werden können, nicht einmal Wasser. Da seine Venen an den Armen keine Nadelstiche mehr zulassen, wurde ihm ein Zugang am Hals gelegt.

„Dvir hat noch einen langen, schweren Weg vor sich, den er mit der Hilfe Gottes durchstehen wird.“ Die Eltern des Jungen wissen, von was sie reden. Tag und Nacht muss jemand bei Dvir im Krankenhaus sein. Bei allem und jedem braucht er Hilfe.

„Gestern mußte er zum ersten Mal in den Rollstuhl“, erzählt Hanna. „Das war eine Tortur. `Ich kann nicht! Ich kann nicht! Laßt mich in Ruhe!` weinte Dvir. Ich mußte ihm immer wieder sagen: `Du kannst! Du mußt!’ Und dabei dachte ich: Mein Herz zerreißt. Am liebsten würde ich ihm sagen: `Bleib im Bett und ruh’ dich aus`!“

Und dann sind da die Fragen nach dem Warum. „Warum ist mir das passiert?“, fragt Dvir. Die Eltern ringen gemeinsam mit ihren Kindern um eine Antwort, die es nicht gibt. „Was soll ich sagen? Wie kann ich das alles erklären?“ fragen sich die Erwachsenen. Hanna erklärt ihren Kindern, „daß alles immer zum Teil unsere eigene Verantwortung ist, zum Teil ist es Gottes Weg mit uns. Er will uns erziehen, prägen.“

Am schlimmsten war für Hanna, als Dvir nach sechs Tagen vom Beatmungsgerät genommen wurde. Weil er in dieser Zeit auch schwere Betäubungsmittel bekommen hatte, war das wie ein Drogenentzug. Dvir hatte furchtbare Schmerzen, schrie, tobte, schlug um sich und wollte alle Sonden, Katheder und Infusionen herausziehen. Einen ganzen Tag lang dauerte der Kampf. Mehrere Personen konnten ihn kaum mit Gewalt bändigen. „Da habe ich angefangen zu weinen!“ Hanna stellt vorwurfsvoll die Frage: „Was habt Ihr aus meinem Kind gemacht?“ „Darauf hatte mich niemand vorbereitet“, meint sie im Rückblick und „die Erklärung, das ist in vielen Fällen so, hilft nicht weiter.“

„Was hilft, ist die Gemeinschaft im Jischuv“, unter den orthodoxen Juden in der Ortschaft Beit Haggai. „Da ist immer jemand, wenn man Hilfe braucht, der Essen kocht, bei den Nachtwachen hilft oder Fahrdienste übernimmt. So etwas gibt es nicht noch einmal auf der Welt.“ Trotz dem schweren Schicksal merkt man dem Ehepaar Musai an, daß ihr Herz für ihre Heimat brennt. „Manchmal sind wir mit der Geduld am Ende. Wir haben ja noch fünf andere Kinder. Aber bisher hat Gott uns immer die Kraft gegeben, die wir brauchen, um weiterzugehen.“

Ohne Gottvertrauen ist ein Leben an einem Ort wie Beit Haggai nicht denkbar. „Natürlich gibt es Angst“, gibt Hanna zu. „Jedesmal wenn Motti auf dem Heimweg von der Schule ist, und wenn er sich dann verspätet.“ Vor ein paar Jahren wurde Hannas Freundin, die Lehrerin Rina Didovsky, ebenfalls Mutter von sechs Kindern, auf dem Weg zur Schule erschossen. Dauernd klingelt bei den Eltern das Mobiltelefon. Man ist ständig in Verbindung. „Das Leben ist kein Picknick. Man fragt sich oft: Was wäre wenn…?“ Aber das Leben in Netanya, Hadera, Jerusalem, Afula oder Tel Aviv ist auch nicht sicherer. Die meisten Terroropfer der vergangenen Monate sind im „Kernland Israels“ zu beklagen.

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