Nicht nur US-Präsident George W. Bush ist enttäuscht über die aktuelle Terrorwelle in Israel. Auch hierzulande verstehen viele nicht, was im Nahen Osten vor sich geht. Während der amerikanische Sondergesandte, General Anthony Zinni, zwischen Ramallah und Jerusalem pendelt, um wenigstens einen Waffenstillstand zu erreichen, werfen radikale Palästinenser wieder Bomben. Die Opfer im Bus auf der Wadi-Ara-Straße vom Mittwoch waren Zivilisten – wie schon so oft in den vergangenen Wochen.
Die Enttäuschung des Westens liegt begründet im Unverständnis der Situation im Nahen Osten. Hier hat jeder taktische Zug mehrere Dimensionen. Wenn Israels Armee sich aus Ramallah und Bethlehem zurückzieht, dann wird das im Westen anders verstanden als in der arabischen Welt. Was im deutschen oder im amerikanischen Fernsehen als „Chance auf Verständigung“ gesehen wird, gilt nicht wenigen Arabern als ein „Zeichen der Schwäche“. Darin liegt die Schwierigkeit.
Wir neigen dazu, Israel als einzige Demokratie der Region mit europäischen Augen zu sehen – und haben entsprechende Erwartungen an seine politische Führung. Deswegen haben die Nato-Staaten im Juni 2000 den Rückzug der Armee Israels aus dem Südlibanon begrüßt, der aufgrund von UN-Resolutionen erfolgte. Die Art und Weise wie Israel das Nachbarland verließ, signalisierte der arabischen Seite freilich etwas ganz anderes: Weil die Hisbollah-Miliz so tapfer gekämpft hat, mußten sich „die Zionisten“ zurückziehen. Deshalb wollten es die Führer der „neuen Intifada“ ihren Genossen im Libanon gleichtun.
Israels Führung steckt in einem schlimmen Dilemma. Auf der einen Seite erwarten George W. Bush und die Europäer von Jerusalem ausgehende Initiativen zur Beendigung der Gewalt. Dies beinhaltet die Schaffung eines Palästinenserstaates in weiten Teilen Judäas, Samarias und Ostjerusalems sowie im gesamten Gazastreifen. Es beinhaltet auch die Forderung nach einem vollständigen Rückzug aus allen Gebieten, die nach den Verträgen von Oslo und Wye zum sogenannten „Gebiet A“ zählen, das unter vollständiger Zivil- und Sicherheitskontrolle der PLO-Behörde stehen soll.
Andererseits muß Israels Regierung auch und vor allem an den Schutz der eigenen Bevölkerung denken. Deshalb muß sie Mittel zur Abschreckung finden, damit die Attentate auf Busse und Bahnhöfe sowie Cafés und Einkaufszentren nicht jeden Tag passieren. Denn die Beobachter sind sich einig, daß die radikalen Palästinenserfraktionen, die jeden Friedensschluß mit Israel ablehnen, jede Möglichkeit nutzen werden, Israel zu treffen.
Premierminister Ariel Sharon hat am Mittwoch auf Vergeltung verzichtet, um Zinnis Mission nicht zu zerstören. Ein weiteres Mal wird er nicht abwarten und zusehen können. Dann werden westliche Fernsehstationen wieder über den Zyklus von „Gewalt und Gegengewalt“ schreiben, der sich jedoch verbietet.
Wo zwei Denkmuster und Systeme aufeinandertreffen, versagen die einfachen Lösungen. „Der Klügere gibt nach“, ist jedenfalls keine Handlungsanleitung für den Nahen Osten. Vielleicht schafft es General Zinni, dies seinem Chef in Washington zu erklären.