Suche
Close this search box.

Publizist Giordano mit 91 gestorben

KÖLN (inn) – Der deutsche Schriftsteller Ralph Giordano ist in der Nacht zu Mittwoch in einem Kölner Krankenhaus verstorben. Er wurde 91 Jahre alt. Zum Anlass seines Todes veröffentlicht Israelnetz noch einmal das Interview, das Dana Nowak vor zwei Jahren mit ihm geführt hat.
Der verstorbene Ralph Giordano setzte sich noch im hohen Alter für Israel ein.

Israelnetz: Ihre Mutter war Jüdin. Sie und Ihre Familie waren den Grausamkeiten der Naziherrschaft ausgesetzt. Haben Ihre Eltern je über Flucht ins damalige Palästina nachgedacht?

Ralph Giordano: Ich erinnere mich, dass ab 1938 die Kinder jüdischer Familien Deutschland ohne ihre Eltern verlassen konnten. Tausende Kinder sind dadurch vor dem Tod bewahrt worden, aber die Eltern sind hiergeblieben und die meisten sind ermordet worden. Die Vorstellung, dass meine beiden Brüder und ich uns von unseren Eltern trennten, war absolut undenkbar. Aber wir wussten 1938 schon, dass ein neues Zeitalter angebrochen ist. Übrigens kamen die ersten seelischen Versehrungen nicht von staatlicher Seite, sondern von dort, wo ich es am wenigsten erwartet hätte: Von den Spielkameraden, mit denen ich in Hamburg groß geworden bin. Mein bester Freund sagte mir im Sommer 1935: „Ralle, mit dir spielen wir nicht mehr, du bist Jude.“ Das erzähle ich Ihnen jetzt, fast 80 Jahre später, und mir laufen noch kalte Schauer den Rücken hinunter.

Gab es keine andere Möglichkeit der Flucht für die ganze Familie?

Nein. Unter den damaligen Umständen war das unmöglich. Aber wir haben auch nicht ernsthaft erwogen, Deutschland zu verlassen. Meine Eltern zählten nicht zu denen, die sich alarmiert gefühlt haben.

Sie sind Deutscher geblieben. Was hat Sie nach Kriegsende in Deutschland gehalten?

Vor der Befreiung war es für uns vollkommen klar, dass wir Deutschland verlassen und den blutigen Staub dieses Landes von unseren Füßen abschütteln würden. Als wir befreit wurden, haben wir die Auswanderung erst in die USA und von da aus nach Palästina in der Hoffnung auf einen jüdischen Staat sofort eingeleitet. Aber das fand nicht statt. Ich erinnere mich an ein Erlebnis in Hamburg im Herbst 1945. Da ging vor mir ein großer Mann mit zwei Frauen, der plötzlich laut ausrief: „Die Juden, die Juden sind an allem schuld.“ Das hat er im nächsten Moment bereut, denn ich bin ihm von hinten in die Kniekehlen gegangen. Der Kerl war doppelt so groß wie ich, er war zu Boden gegangen und ich habe ihn dann mit Nägelklauen und Zähnen bearbeitet. Er lief schließlich weg. Er hätte mich zermalmen können, aber er hat es nicht getan. Er hat nicht erwartet, dass hinter ihm ein Jude war. Dieses Ereignis zeigte, dass Hitler zwar militärisch, aber nicht geistig geschlagen war. Nach dieser Erkenntnis wäre ich mir vorgekommen wie ein Deserteur, wenn ich Deutschland verlassen hätte. Ein anderer Grund, warum ich in Deutschland geblieben bin, ist die deutsche Sprache. Sie ist immer meine Heimat gewesen, selbst in der finstersten Nazi-Zeit. Die deutsche Sprache ist eine wunderbare Sprache. Und ich habe viele Sprachen gelernt. Aber in einer anderen zu denken und zu schreiben, das wäre unmöglich gewesen. Aber die Erlebnisse der Nazizeit haben mir einen tiefen Fluchtinstinkt injiziert – weg von dieser Drohung. 1938 war die ständige Furcht vor dem jederzeit möglichen Gewalttod unser zentrales Lebensgefühl gewesen. Nicht, weil wir uns auf die Straße stellten und brüllten, „Nieder mit Hitler“, sondern weil wir da waren auf der Welt. Also, es gab Grund genug, Deutschland zu verlassen. Es ist dann nicht geschehen, ich bereue das nicht, sondern weiß das zu rechtfertigen, wenn dieser Ausdruck zutreffen sollte, und so wird es auch bleiben.

In europäischen Ländern wie Norwegen und Frankreich ist ein stark wachsender Antisemitismus festzustellen. Woher kommt er?

Ich stelle mit Entsetzen fest, dass sich erschreckende Zahlen und Ereignisse antisemitischer und antiisraelischer Art auftun. Und das nach Auschwitz, jener Zäsur, nach der man hätte annehmen können und dürfen, dass sich danach etwas in der Welt verändert, gerade in Bezug auf die Juden. Es hat sich natürlich vieles geändert, auch in Deutschland. Aber wir stellen fest, dass der Antisemitismus in Europa auf bestürzende und verstörende Weise aktiv ist. Ich muss schon sagen, dass dies meine späten Tage verdunkelt.

Seit Monaten wird in Deutschland über die Gefahr durch Salafisten diskutiert. Wie sollte die Bundesrepublik mit dieser Herausforderung umgehen?

Auf jeden Fall hart und konsequent. Denn was sich durch die Salafisten tut, ist etwas, das die Demokratie unmittelbar bedroht. Da bin ich sehr sensibel: Die demokratische Republik ist die einzige Gesellschaftsform, in der ich mich sicher fühle, nach meinen Vergleichsmöglichkeiten aus der Nazizeit. Und wenn ich sehe, dass daran gerüttelt wird, dann werde ich ganz böse. Die Salafisten wollen eine andere Welt, ein anderes Deutschland und eine andere Gesellschaftsform. Sie wollen nicht etwa eine andere Demokratie, sie wollen gar keine Demokratie. Und selbstverständlich muss gegen diese Kräfte und auch gegen andere, die dasselbe wollen, mit aller Schärfe vorgegangen werden. Die Salafisten sind nur ein Beispiel dafür. Wir haben es hier mit einem großen übergeordneten Problem zu tun, nämlich dem Zusammenstoß zweier sehr unterschiedlicher Kulturen in Deutschland durch die muslimischen Immigranten. Das ist kein Generalverdacht gegen die Muslime. Aber innerhalb dieser Gruppe gibt es Kräfte, die ein anderes Deutschland wollen, und dagegen wende ich mich. Und es ist das niederträchtigste aller niederträchtigen Totschlagargumente einer ganz bestimmten Gruppe von Multikulti-Illusionisten, Sozialromantikern, Dauerumarmern und Beschwichtigungsaposteln, Kritik am Islam gleichzusetzen mit Rassismus und Rechtsextremismus.

Sie haben im Oktober 2011 auf dem Israel-Kongress in Frankfurt in einer Rede Ihre Solidarität mit Israel bekundet. Warum setzen Sie sich so stark für dieses Anliegen ein?

Ich fürchte nicht, dass es einen zweiten 30. Januar 1933 geben wird. Das ist nicht der Schatten meiner späten Tage. Sondern meine Sorge, meine Qual ist: Was wird mit Israel? Damit wache ich morgens auf und schlafe abends ein. Ich bin ja ein wortgewandter Mann, aber es fällt mir sehr schwer, adäquat auszudrücken, was Israel für mich bedeutet. Obwohl ich in Deutschland lebe, ist Israel mein Mutterland. Israel ist das Land, mit dem ich lebe und atme, Israel ist die Liebe meines Lebens. Und der Gedanke, was da geschehen ist, und dass Juden dort am stärksten gefährdet sind, wo sie glaubten, am sichersten zu sein, das bringt mich um.

Wie schätzen Sie die israelisch-deutschen Beziehungen heute ein? Was raten Sie Bundeskanzlerin Angela Merkel?

Die deutsch-israelischen Beziehungen waren und sind problematisch, das werden sie auch bleiben. In Deutschland gibt es viele Menschen, die ein humanes Verhältnis zu Israel haben. Aber es könnte manches anders und besser sein. Diese Selbstverständlichkeit, mit der Israel auf die Anklagebank gesetzt wird, ist etwas, was die Beziehungen schwer stört. Was die Kanzlerin anbetrifft, muss ich sagen, dass ich ein tiefes Vertrauen zu ihr habe – auch durch ein persönliches Gespräch, das ich mit ihr geführt habe. Sie hat ein sehr humanes Verhältnis zu Israel. Sie ist ein Mensch, der sich absolut darüber im Klaren ist, welcher historische Hintergrund das Verhältnis zwischen Deutschland und Israel bestimmt. Es erschreckt einen aber, wenn man weiß, dass 13 bis 14 Prozent der Deutschen ein geschlossen rechtsextremes Weltbild vertreten. Und 30 Prozent der Deutschen haben heute ein, sagen wir mal, ambivalentes Verhältnis zu Juden. Damit sind wir schon bei 44 Prozent, die ein gestörtes Verhältnis zu Juden haben. Das ist beunruhigend. Trotzdem gibt es die große Freude, dass die Geschichte der Juden in Deutschland nicht zu Ende ist. Es ist Hitler und dem nationalen Kollektiv seiner Anhänger nicht gelungen, Deutschland judenfrei zu machen.

Stellen deutsche Medien den Nahostkonflikt objektiv dar?

Ich sage das ganz offen, ich bin oftmals erbost über die totale Einseitigkeit, mit der Israel hier in Deutschland von einem großen Teil der Massenmedien auf die Anklagebank gesetzt wird. Da ist etwas eingerastet, was mich empört. Es wird einfach nicht bedacht, dass die wirklich Bedrohten die Israelis sind! Man kann sich doch vorstellen, was in Deutschland los wäre, wenn jedermann jederzeit getötet oder verwundet werden könnte. Denn das ist die Situation, in der sich Israel befindet. Und ich kenne dieses Deutschland gut genug, um zu wissen, dass es diesen Test nicht so bestehen würde, wie Israel ihn besteht. In Israel ist die Demokratie trotz allem stabil und fest, davon könnte hier keine Rede sein. Und es erfüllt mich mit Zorn, wenn ich sehe, wie ungefährdete Deutsche besser wissen wollen als die israelischen Sicherheitsorgane, wie die Bürgerinnen und Bürger Israels vor den arabischen Angriffen geschützt werden können. Ich frage mich oft, was wohl am Ende dieses Jahrhunderts sein wird. Und ich sage Ihnen, sie werden alle da sein: die Jordanier, die Ägypter, die Libanesen, die Saudis, die Marokkaner. Aber was mit Israel wird, das ist keineswegs sicher. Das ist die Sorge meiner späten Tage. Nichtsdestotrotz bin ich überzeugt von Israels Kreativität und Vitalität. Ich habe ein ungeheures Vertrauen in seine Prosperität und seine Überlebensfähigkeit.

Mohammed Mursi, der aus der Muslimbruderschaft stammt, ist neuer ägyptischer Präsident. Was bedeutet das für Israel?

Wir können von diesen Leuten, die heute Ägypten regieren, keine Freundlichkeiten erwarten. Ich beobachte die Entwicklungen dort mit großer Unruhe. Bis jetzt ist ja an den vertraglichen Beziehungen zwischen Ägypten und Israel nicht gerüttelt worden. Doch es sind erschreckende Töne zu vernehmen. Die Demokratie in Ägypten ist eine Farce. Es gibt kein einziges islamisches Land, das demokratisch regiert wird. Große Hoffnungen, dass sich etwas zum Besseren ändert, habe ich nicht. Israel ist durch die sogenannte Arabellion noch mehr bedroht, fürchte ich.

Bedroht wird Israel auch von Seiten des Iran – wie sollte sich der Westen gegenüber Ahmadinedschad verhalten?

Der Westen sollte hart reagieren auf die Ungeheuerlichkeiten, die sich dieses Mullah -Regime dort erlaubt. Der Welt muss klar werden, dass in dieser Sache nicht nur das Schicksal Israels, sondern der ganzen Welt auf dem Spiel steht. Daher kann die Welt die Last nicht Israel alleine überlassen. Es muss klar werden, dass Israel gegenüber dem Mullah -Regime all die Werte vertritt, die heute über der UNO stehen, was die Menschenrechte, die Demokratie, den demokratischen Verfassungsstaat anbetrifft. Am meisten Angst vor dem Iran hat aber nicht Israel, sondern haben die arabischen Potentaten ringsum. Ich habe einmal in einer Talkshow gesagt, Israel kann die Bombe in den Händen des Mullah -Regimes nicht dulden. Das ist auch heute noch meine Meinung. Und diese Gefahr kann nur dadurch beseitigt werden, dass die ganze Welt gegen die Mullah-Bestrebung steht, die Bombe in die Hand zu bekommen. Ich selber möchte noch sagen, letztlich glaube ich, dass die Geschichte weitergehen wird, dass Israel weiter existieren wird. Und wenn der Eindruck entsteht, dass ich ein Pessimist bin, dann möchte ich das korrigieren. Ich denke, ich bin ein Realist, ich sehe die Dinge so, wie sie sind.

Ihr letztes Buch trägt den Titel „Von der Leistung, kein Zyniker geworden zu sein“. Wie haben Sie das geschafft, kein Zyniker zu werden, nach allem, was Sie erlebt haben?

Diese Frage stelle ich mir manchmal selbst. Ich denke, das liegt vor allem daran, wie ich die Welt kennengelernt habe. Ich bin als Fernseh-Autor in 38 Ländern gewesen. Sehr wohl hätte man da, wenn man das Ausmaß des Elends sieht, zum Pessimisten werden können, zum Zyniker. Das ist nicht der Fall gewesen und zwar ganz einfach deshalb nicht, weil ich neben all dem Schrecklichen auch etwas Großartiges kennengelernt habe: Mitmenschlichkeit. Sie ist überall. Wir leben in einer Welt, in der nur schlechte Nachrichten Quote machen. Aber das ist ja nicht die Wirklichkeit. Daneben gibt es überall auf der Welt millionenfach Mitmenschliches. Das hat es mit sich gebracht, dass ich mir den Glauben an das Gute nicht habe rauben lassen. Ohne dieses Gewicht hätte das andere, das Böse, längst obsiegt. Das hat es aber nicht. Und es hat auch Giordano nicht zum Zyniker gemacht. Dass ich hier vor Ihnen sitze und mit Ihnen spreche, ist der Mitmenschlichkeit unter den entsetzlichen Bedingungen der Nazizeit zu verdanken. Ich habe immer gewusst, dass meine Mutter und wir deportiert werden würden. Daraufhin habe ich ein Versteck gesucht. Die Frau, die ich dabei fragte, war eine ehemalige Nachbarin, die genau wusste, dass ihr Leben verwirkt sein würde, sollte man uns entdecken. Diese Frau fragte ich: „Gretel, können wir uns bei dir verstecken, wenn ein Deportationsbefehl kommt?“ Da sagte sie nur ein Wort, drehte sich gar nicht nach mir um: „Natürlich“. Und so sitze ich hier vor Ihnen, mit 89. Und diese 89 Jahre habe ich dieser Frau zu verdanken.

Bitte beachten Sie unsere Kommentar-Richtlinien

Schreiben Sie einen Kommentar

Offline, Inhalt evtl. nicht aktuell

Israelnetz-App installieren
und nichts mehr verpassen

So geht's:

1.  Auf „Teilen“ tippen
2. „Zum Home-Bildschirm“ wählen