Die Fernsehbilder wird so schnell keiner vergessen: Die zwölfjährige Huda Rhalia irrt am Strand von Gaza durch die Dünen und sucht panisch schreiend nach ihren Eltern – bis sie unter den im Sand herumliegenden Leichen ihren toten Vater entdeckt. „In einem kurzen Augenblick hat sie ihre ganze Familie verloren, ihren Vater, ihre Mutter und alle ihre Geschwister“, erläutert die palästinensische Nachrichtenagentur „Ma´an“ und malt das furchtbare Geschehen bis ins Detail aus.
Eigentlich wollte die palästinensische Familie Rhalia nur einen fröhlichen Tag verbringen, Sonne, Sand und frische Luft genießen, fern von dem überbevölkerten Flüchtlingslager, in dem sie wohnt. Doch dann wurden der Vater, seine beiden Frauen und die fünf Kinder ahnungslos beim Picknick am Strand von einem israelischen Raketenangriff überrascht und ausgelöscht. Huda ist die einzige Überlebende, stellt Ma´an fest, „und dabei hat die Rhalia-Familie schon zwei Jahre zuvor vier Mitglieder bei einem der ziellosen israelischen Raketenangriffe verloren.“
Augenzeugen widersprechen sich. Die einen reden von israelischen Kampfjets, andere wollen „ein Geschütz im Meer“ gesehen und deshalb sofort gewusst haben, was passiert ist. Und dann stellt Ma´an fest, dass jeder offizielle Vertreter auf palästinensischer Seite eine andere Geschichte parat hat, über das, was nahe den Ruinen der ehemaligen jüdischen Siedlung Dugit geschehen ist.
Der Bericht des palästinensischen Fernsehens lässt dagegen keinerlei Zweifel daran aufkommen, wer für das Massaker verantwortlich ist. Zu Anfang der „Reportage“ wird ein feuerndes Schnellboot der israelischen Kriegsmarine gezeigt. Und nach dem Einschlag der Granaten und der Panik am Strand, sieht man israelische Marinesoldaten, wie sie sich per Feldstecher von ihrem Erfolg überzeugen. So wird Huda Rhalia zum Symbol „für Duzende anderer palästinensischer Zivilisten“ im nördlichen Gazastreifen, wo Israel – laut Nachrichtenagentur Ma´an – „in den vergangenen sechs Monaten durch sein Bombardement mit Tausenden von Artilleriegeschossen viele weitere Hudas geschaffen hat.“
Die Reaktionen auf palästinensischer Seite lassen nicht auf sich warten und sind mit Schuldzuweisungen auch nicht zurückhaltend. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas spricht von einem „blutigen Völkermord“ und ordnet eine dreitägige Staatstrauer an. Die „Palästinensische Initiative zur Förderung des weltweiten Dialogs und der Demokratie“ (MIFTAH) der christlichen Anglistikprofessorin und Parlamentarierin Hanan Aschrawi fordert von der internationalen Gemeinschaft „sofortige und konkrete Schritte, um den israelischen Staatsterrorismus“ zu stoppen und Israel ob seiner Kriegsverbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Die Hamas kündigt eine 16-monatige Waffenruhe auf, prophezeit „ein Erdbeben in den zionistischen Städten“ und fordert „die Aggressoren“ auf, „ihre Särge oder Koffer“ vorzubereiten.
Ma´an, die unter den palästinensischen Quellen als zuverlässig gilt, stellt fest: „Die Welt sieht unbeteiligt zu und verurteilt den Verlust von palästinensischem Leben nicht. Aber die Welt schreit auf, wenn nur ein einziger Israeli getötet wird – und die einzige verbleibende Supermacht der Welt, die Vereinigten Staaten, behauptet, die Israelis hätten ein Recht auf Selbstverteidigung.“ Deshalb bezeichnet der palästinensische Kommentar die sieben Toten der Rhalia-Familie auch folgerichtig als „Opfer der Gleichgültigkeit der Welt gegenüber der israelischen Aggression“.
Da natürlich niemand die Mitschuld an Kriegsverbrechen tragen will, trudeln schon bald die Verurteilungen der Gräueltat in die Mailboxen und Faxmaschinen von Journalisten und Agenturen. Als erste meldet sich die israelische Friedensbewegung „Gusch Schalom“ („Friedensblock“) gemeinsam mit den „Anarchisten gegen die Mauer“ und anderen pazifistischen Aktivisten zu Wort: „Stoppt den Mord an Zivilisten! Die israelische Regierung zieht uns alle in ein Meer des Blutes und der Gewalt!“, und ruft zur Demonstration vor dem Privathaus des Generalstabschefs Dan Halutz auf. Menschenrechtsorganisationen aus dem In- und Ausland stimmen in den Chorus mit ein, darunter die „Rabbis für die Menschenrechte“.
Was von allen Stimmen verschwiegen wird, die Gerechtigkeit und Schutz für die Palästinenser einfordern, ist, dass allein an dem Wochenende des 9. bis 11. Juni 2006 ungefähr 70 Raketen aus dem Gazastreifen auf Israel abgefeuert wurden. Angesichts des Leides der Familie Rhalia – und der sich daraus ergebenden propagandistischen Chancen – erblasst jedes Leid auf der anderen Seite. Seit April 2001 fielen mehr als 3.000 Raketen auf die an den Gazastreifen angrenzenden israelischen Gebiete.
Die Absichtserklärungen der verantwortlichen Kämpfer auf beiden Seiten fallen unbeachtet unter den Tisch, so als sei es bedeutungslos, wenn israelische Militärs beteuern, alles zu tun, um zu verhindern, dass Unschuldige zu Schaden kommen. Von palästinensischen Freiheitskämpfern ist gleichzeitig zu vernehmen, dass es auf israelischer Seite keine unschuldigen Zivilisten gebe. Alle Israelis seien Soldaten, entweder tatsächlich im Wehrdienst, oder aber in Reserve, oder ehemalige – und im Falle von Kindern natürlich zukünftige.
Israel kündigte unmittelbar nach Bekanntwerden des tragischen Geschehens eine Untersuchung an. Allerdings schließen Militärs sofort aus, dass der Beschuss der Marine den Vorfall verursacht haben könnte. Außerdem bietet der jüdische Staat unbürokratisch medizinische Hilfe für die Verletzten an, einschließlich eines Krankenhausaufenthalts in Israel. Die palästinensische Seite verweigert jede Kooperation bei den Ermittlungen, während Angehörige der Hamas am Explosionsort Überreste des Sprengsatzes beseitigen.
Von israelischer Seite ist tagelang keine greifbare Stellung zu bekommen. Premierminister Ehud Olmert verkündet während seiner Europavisite, Israel habe „die moralischste Armee der Welt“. Und Verteidigungsminister Amir Peretz droht mit einer „Propagandaoffensive“, sollte die Untersuchungskommission zu dem Ergebnis kommen, dass nicht die israelische Armee für das Massaker vom Strand von Gaza verantwortlich sei. Dass das Interesse der Weltöffentlichkeit so kurzlebig ist wie die täglichen Nachrichtensendungen und Gegendarstellungen, wenn sie wirksam sein wollen, unmittelbar erfolgen müssen, versteht Mark Regev, Sprecher des israelischen Außenministeriums, zwar, meint aber achselzuckend: „Wollt ihr eine oberflächliche Stellungnahme oder ein beweiskräftiges Untersuchungsergebnis?“
Nach einer Rekordzeit von nur vier Tagen stellen sich dann Verteidigungsminister Amir Peretz, Generalstabschef Dan Halutz und der Leiter der israelischen Untersuchungskommission, Generalmajor Meir Kalifi, der Presse. „Zweifelsfrei“, so beteuert die Führung der israelischen Armee, habe die Untersuchungskommission festgestellt, dass die sieben Familienmitglieder nicht durch israelische Granaten zu Schaden gekommen sein können. Halutz betont: „Wir haben jedes Geschoss, das vom Wasser, aus der Luft und vom Land aus abgefeuert wurde, überprüft und konnten jedes vom Zeitpunkt des Schusses bis zum genauen Einschlag nachweisen.“ Und Kalifi kommt zu dem Schluss: „Die Wahrscheinlichkeit [dass ein israelisches Artilleriegeschoss den Tod verursacht haben könnte] ist absolut Null. Dafür gibt es keine Chance.“
Zu den wichtigsten Befunden gehören Metallsplitter, die aus den Körpern der Verletzten im Ichilov-Krankenhaus in Tel Aviv entfernt und am Technion in Haifa untersucht wurden. Sie können nach Ansicht der israelischen Experten nicht von einem der 155 mm-Geschosse stammen, die von der israelischen Artillerie eingesetzt worden waren. Auch die Möglichkeit, dass die Familie von einem Schiff der israelischen Marine aus beschossen worden ist, könne ausgeschlossen werden, da dieser Beschuss früher am Tag stattgefunden habe.
Den positiven Gegenbeweis bleiben die israelischen Ermittler allerdings wieder einmal schuldig. Generalmajor Kalifi gesteht ein, dass es für die israelische Armee keine Möglichkeit gibt, mit Sicherheit festzustellen, was die Explosion tatsächlich verursacht hat. Es könnte eine alte, vergessene Bombe gewesen sein, aber auch ein Sprengsatz palästinensischen Ursprungs. Immerhin behaupten die Israelis, nachrichtendienstliche Informationen zu haben, dass am nördlichen Strand von Gaza Sprengsätze vergraben wurden, um Einsätze der israelischen Armee zu behindern.
UNO-Generalsekretär Kofi Annan bezeichnet die Ergebnisse der Untersuchungskommission als „eigenartig“. Die britische Zeitung „The Independent“ und der amerikanische Nachrichtensender CNN zitieren einen ehemaligen Experten des amerikanischen Verteidigungsministeriums namens Marc Garlasco, der den Ort des Vorfalls inspiziert habe und zu der Einsicht gelangt sei, dass ein „israelisches 155 Millimeter Artilleriegeschoss“ die Explosion verursacht hat. Wie Annan fordert auch Garlasco eine unabhängige Untersuchung.
Interessanterweise stellt niemand, dem das Schicksal der 12-jährigen Huda Rhalia zu Herzen geht, die Frage, warum der Kameramann ihre Verzweiflung so ausführlich gefilmt hat, anstatt dem Mädchen zu helfen. Spätestens seit die Bilder vom Tod des Muhammad a-Dura, der im Oktober 2000 vor laufender Fernsehkamera erschossen wurde, um die Welt gingen, ist klar, dass die palästinensische Seite die Kinderschicksale dieses grausamen Zermürbungskrieges effektiv für Propagandazwecke ausschlachtet. Auch im Falle von Muhammad a-Dura konnte die israelische Seite nur feststellen, dass ihre Soldaten die Todesschüsse nicht abgefeuert haben konnten. Auch damals hatten die Palästinenser jede Zusammenarbeit bei den Ermittlungsarbeiten verweigert und die Spuren, die den Verantwortlichen für den Tod des Jungen hätten überführen können, verwischt.
Israelische Propagandisten haben sich im Laufe der vergangenen Jahre ein paar Mal bemüht, die palästinensische Masche zu kopieren und Kinderaugen, Kindertränen oder Kinderschicksale für ihre Zwecke nutzbar zu machen. Tatsache ist allerdings, dass die „Propagandaoffensiven Made in Israel“ kaum eine Großmutter hinter dem Ofen hervorlocken, geschweige denn die öffentliche Weltmeinung beeinflussen.
Das Schicksal der zehn Monate alten Schalhevet Pas, die im März 2001 in Hebron von einem Scharfschützen im Arm ihres Vaters erschossen wurde, hat die Welt kaum berührt – obwohl das israelische Außenministerium die Bilder des toten Mädchens entgegen allen Bedenken jüdischer Ethiker auf höchste Anweisung veröffentlichte. Und als Siedler und ihre Sympathisanten im Rahmen der Räumung des Gazastreifens versuchten, ihre Kinder als Opfer zu präsentieren, reagierte schon die israelische Öffentlichkeit mit Abscheu und manch einer forderte, diesen Kindesmissbrauch gerichtlich zu verfolgen.
Die Weltöffentlichkeit, die von den Konfliktparteien im Nahen Osten so unablässig einen vernünftigen und ethisch verantwortbaren Umgang einfordert, muss sich die Frage gefallen lassen, warum der Umgang mit Huda Rhalia nicht angeprangert wird. Dass Hamas-Premierminister Ismail Hanije das Waisenmädchen adoptiert hat, mag als ehrliche Fürsorge dessen verstanden werden, der so gerne ein Landesvater wäre. Dass Palästinenserpräsident Mahmud Abbas die kleine Huda vor Fernsehkameras in den Arm nahm und sich auf ihre Kosten als Schützer der Witwen und Waisen präsentierte, ist für das islamisch geprägte Mädchen in der Pubertät ebenso demütigend und peinlich, wie der immer wieder abgespulte Filmstreifen ihrer verzweifelten Suche nach dem toten Vater.