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Propaganda mit Ministatistiken und Vergeltung

Bei Medienuntersuchungen werden nur die Endprodukte geprüft, Zeitungen, Zeitschriften, Nachrichtensendungen von ARD oder ZDF. Da werden Erbsen gezählt.

Wenn Arafat exakt so viele Sekunden über den Bildschirm flimmert wie Sharon, bestätigen sich die Fernsehmacher eine TV-gemäße Ausgewogenheit. Manchen Forschern scheint der rechte Maßstab zu fehlen, weil sie keine Ahnung von den subtileren Formen des Antisemitismus haben. Es ist legitim, Israel zu kritisieren und Sharon nicht zu mögen.

Das ist kein Antisemitismus. Aber die verwendeten Klischees, historisch belastete Worte, Bilder aus dem klassischen Antisemitismus bis hin zu antijüdischen Vorurteilen aus dem Repertoire der christlichen Kirchen verwandeln legitime politische Kritik in eine gefährliche antisemitische Polemik. Ohne den Apparat eines Forschungsinstituts mit volontierenden Erbsenzählern veranstaltete ich meine eigenen Studien.

Dem Publikum entgeht, wer in Wirklichkeit unseren Nachrichtenalltag bestimmt. Das sind nicht die Tagesschau, der Spiegel oder die FAZ. Es sind Weltmächte, die im Hintergrund arbeiten und alle Redaktionen beeinflussen. Das klingt wie eine Verschwörungstheorie. Ich meine Nachrichtenagenturen wie Reuters, Associated Press (AP), Deutsche Presse Agentur (dpa) oder Agence France-Presse (AFP). Für den Glauben an ihren Wahrheitsgehalt gibt es sogar einen Fachbegriff: Agenturgläubigkeit.

Ein Problem sind politische Wertungen. So fügen die Agenturen den Namen gewisser Politiker Adjektive bei, die allein der Weltanschauung der Reporter entsprechen. Monatelang las ich vom „Hardliner Arafat“, vom „gemäßigten Sharon“ und vom „Extremisten Mahmoud Abbas“… Wie wäre es, wenn wir bei der Rentendiskussion über den „Hardliner Schröder“ und den „gemäßigten Stoiber“ redeten. Lächerlich.

Abstrus ist baffes Erstaunen der Agenturreporter: „Der als Hardliner bekannte Ariel Sharon erklärte sich zur Räumung von Siedlungen bereit.“ Es fragt sich, wer eigentlich Sharon zum Hardliner gemacht hat. Bei nüchterner und unvoreingenommener Betrachtung ist seine Politik eher pragmatisch und je nach Situation mal hart, mal nachgiebig und in jedem Fall konsistent und wechselhaft zugleich.

Ich persönlich würde mir jedenfalls kein simples pauschalisierendes Urteil über keinen einzigen der nahöstlichen Politiker erlauben, zumal sie alle in einer unberechenbaren Wirklichkeit auch immer wieder unberechenbar reagieren. Als tunlichst neutraler Beobachter erwarte ich auch von den Nachrichtenagenturen eine wertfreie Berichterstattung, ohne Adjektive und ohne politische Hochstapelei, als wüßten die Agenturreporter besser als die Politiker, wo es langgeht.

Ein anderes Phänomen ist reine Propaganda für die Redakteure. Seit dem ersten Tag der Intifada fügen Reuters und AP jeder Meldung aus Nahost eine Statistik an. Neutral formuliert lautet sie: Seit dem 28. September 2000 sind x Palästinenser und y Israelis getötet worden.

Von rund 5.000 solcher Ministatistiken habe ich für meine Analyse einige hundert herauskopiert. Das Wort „Intifada“ kommt übrigens nicht vor, weil es ein erklärungsbedürftiges Fremdwort ist. Ich hatte den 28. September 2000 als ersten Tag der Intifada erwähnt. Damit es nicht langweilig wird, haben sich die Agenturjournalisten unzählige andere Formulierungen für die Stunde Null ausgedacht: Seit der Provokation Sharons auf dem Tempelberg, seit Ausbruch des spontanen Volksaufstandes, der Revolte, des Krieges, seit Beginn dieser Runde der Kämpfe, der Gewalt, des Blutvergießens, seit Ausbruch des palästinensischen Kampfes für einen eigenen Staat, Befreiungskampfes, Kampfes zur Beendung der Besatzung, seit dem Scheitern der Friedensverhandlungen.

Viele dieser Stilblüten sind reine Schuldzuweisungen, zynisch verknüpft mit vielen palästinensischen Toten und relativ wenigen israelischen Opfern. Längst ist belegt, daß die Intifada kein spontaner Volksaufstand als Reaktion auf Sharons Provokation ist, sondern ein Monate im voraus geplanter bewaffneter Angriff auf Israel.

Der wahre Auslöser der Intifada war der israelische Rückzug aus dem Südlibanon. Gemäß der palästinensischen Wahrnehmung habe die Hisbollah die Israelis vertrieben. Laut palästinensischen Quellen sollte die Intifada mit Gewalt die Siedler vertreiben.

Das bemerkenswerteste palästinensische Dokument über den Ausbruch der Intifada ist ein Interview des wegen Mordes angeklagten Volkstribuns Marwan Barghouti. Am ersten Jahrestag der Intifada protzte er, Sharon ins offene Messer laufen gelassen zu haben. Barghouti behauptet, die Provokation Sharons als letzte Chance genutzt zu haben, um die Intifada ausbrechen zu lassen und Israel zu beschuldigen.

Es ist schwer, mit neutralen Worte ohne Schuldzuweisung den Beginn der Intifada darzustellen. Sogar das Datum ist problematisch. Begann sie etwa mit dem ruhigen Besuch Sharons auf dem Tempelberg? Einige Tage zuvor, mit dem vorsätzlichen Mord an israelischen Soldaten oder aber am blutigen Freitag, einen Tag nach der Provokation Sharons? Die Frage wäre irrelevant, wenn das nicht bis heute entscheidende Folgen für die Wahrnehmung und Beurteilung der Intifada hätte. Dabei widersprechen sich jene, die einerseits Sharon zum Schuldigen machen und andererseits den Palästinensern ein legitimes Recht auf gewalttätigen Widerstand zubilligen.

Nächster Punkt sind die Totenzahlen und die Identität der Opfer. Jeder israelische oder palästinensische Tote wird mit Altersangabe beim Namen genannt. In anderen Weltregionen bin ich nicht bewandert. Aber ich vermute mal, daß Reuters und AP mit eben solchem Fleiß die Namen und Altersangaben der drei Millionen Todesopfer im Kongo, der zwei Millionen Toten im Südsudan, der 250.000 europäischen Toten im ehemaligen Jugoslawien gesammelt und veröffentlicht haben. Ganz gewiß wurden auch die Namen der Hunderttausenden Toten des Irakkriegs publiziert. Ich habe sie trotz intensiver Suche nicht gefunden. Nicht einmal die Namen der Erfurter Schüler nach dem Amoklauf wurden von den internationalen Agenturen mit derart akribischer Genauigkeit nach Neuseeland, Japan, Argentinien und Südafrika vermeldet. Mir ist klar, daß 3.000 Tote nach drei Jahren Krieg in Nahost ungleich schwerer wiegen als die amorphe Masse der 3.000 Toten des 11. September. Zweifellos erzeugt jeder tote Palästinenser, dessen Leiche sogar aus dem Kühlschrank hervorgeholt wird, um für alle Welt sichtbar gefilmt zu werden, mehr Mitgefühl und Empathie als die Toten von New York, Tel Aviv oder Jerusalem. Niemand hat sie jemals gesehen, weil sie aus Pietätsgründen nicht gefilmt werden. Amerikaner wie Israelis halten eine derartige Leichenschau für geschmacklos und ekelerregend.

Bei der nationalen Identität der Toten gerieten die Agenturen ins Schleudern, sowie deren Schubladendenken ins Wanken geriet. Wer mehr Tote hat, ist Opfer. Wer weniger Tote hat, ist Täter oder Übeltäter. Monate lang lautete die Statistik X Palästinenser, Y Israelis und 13 andere. Irgendwann verschwanden diese Ufos wieder. „Andere“, das waren 13 israelische Araber, bei Unruhen im Kernland Israels umgekommen. Jüdische Israelis, bei der gleichen Gelegenheit umgebracht, wurden nicht mitgezählt.

Bald gab es neue Komplikationen. Harry Fischer, deutscher Chiropraktiker, wurde von einer israelischen Rakete getroffen. Der wurde als Ausländer angeführt. Ebenso ein erschossener griechischer Mönch. Stillschweigend und posthum wurden sie später zu Palästinensern gemacht. Auch auf der israelischen Seite bürgern die Agenturen posthum die Ausländer ein. Ich denke da an Amerikaner, Franzosen, Philipinos und Chinesen, die bei Selbstmordattacken in Jerusalem oder Tel Aviv getötet wurden und in den Statistiken zu getöteten Israelis gemacht werden.

2.331 Palästinenser sind tot. Aber wurden sie tatsächlich „von den Israelis getötet“, wie manche Ministatistiken behaupten? Das Institut für Konter-Terrorismus in Herzliya zählte am 19. Juni zudem 787 tote Israelis. Inzwischen stieg die Zahl auf über 800. Andere Quellen andere Zahlen. Meines Wissens wendet allein das Institut in Herzliya eine wissenschaftliche Methodik an. Dieses makabre Thema hat eine entscheidende Bedeutung für die Wahrnehmung des Konflikts durch die deutschen Medien, denn Tote machen die größten Schlagzeilen.

Weit über die Hälfte der palästinensischen Toten waren Kombattanten oder „mutmaßliche Kombattanten“. Bei den Israelis sind es nur 20 Prozent. 107 palästinensische Frauen wurden getötet, darunter 27 Kombattanten, also Selbstmordattentäterinnen und ähnliches. Das sind weniger als vier Prozent aller palästinensischen Opfer. Auf der israelischen Seiten dagegen wurden bis heute 242 weibliche Todesopfer gezählt. In absoluten Zahlen sind das dreimal mehr als die toten Palästinenserinnen.

Auch wenn ich hier den abgedroschenen Spruch „Jeder Tote ist zuviel“ anbringe, stimmt da etwas nicht. Der Eindruck in Deutschland, als würden die Israelis blindlings gegen palästinensische Zivilisten vorgehen, klingt unglaubwürdig angesichts der extrem niedrigen Zahl toter Palästinenserinnen.

Den Palästinensern ist viel gelegen, die Zahl ihrer Toten in die Höhe zu treiben, um sich propagandistisch überzeugend als Opfer darzustellen. Die Agenturen spielen da täglich mit. AP hat berichtet, daß auch die rund 200 palästinensischen Selbstmordattentäter als Opfer der Israelis mitgezählt würden. 200, das sind allein fast zehn Prozent der palästinensischen Toten. Die klassischen Selbstmordattentäter seien nicht von todesgewissen Kämpfern zu unterscheiden, die Siedlungen, Städte oder Stellungen angreifen, wissen, daß sie nicht überleben werden und tatsächlich von Israelis erschossen werden. So sagte es mir ein Mitarbeiter von AP.

Als palästinensische Opfer der Israelis werden auch Bombenbauer mitgezählt, die bei sogenannten „Arbeitsunfällen“, bei der Vorbereitung von Bomben in die Luft fliegen. Sogar die von Palästinensern ermordeten Kollaborateure erscheinen in der Gesamtstatistik, als seien sie von Israelis umgebracht worden.

Es geht mir nicht darum, palästinensischen Terror, israelische Liquidierungen, den legitimen Widerstand der Palästinenser oder das israelische Selbstverteidigungsrecht zu rechtfertigen. Mich interessiert auch nicht, wer der Oberschurke bei dem hundert Jahre alten Konflikt ist, oder ob Siedlungen größere Verbrechen sind als Selbstmordattentate. Was mich aber immens stört, ist eine subtile Propaganda, wie sie von den Nachrichtenagenturen betrieben wird mit scheinbar neutralen Zahlen. Die Agenturen verwenden auch andere subtile Methoden der Meinungsmache. So weiß ich aus erster Hand von dem Redaktionsbeschluß einer großen deutschen Nachrichtenagentur, jede israelische Militäraktion als „Vergeltungsschlag“ zu bezeichnen. Selbst wenn der israelische Militärsprecher von einem Präventivangriff spricht, berichtet jene Agentur von Vergeltung. Andere Agenturen enthalten in ihren englischen Originalberichten nichts dergleichen. Doch in der deutschen Ausgabe etwa von Reuters rutscht der Begriff „Vergeltung“ als Zwischentitel rein.

Vor allem in Deutschland verbindet sich jüdische Vergeltung mit Rache. Dann sind wir ganz schnell bei Luthers Erfindung des jüdischen Rachegottes im Gegensatz zum christlichen Gott der Liebe angelangt. Sogar Hitler berief sich gegenüber evangelischen Bischöfen auf Luther, um Bücherverbrennungen und Judenverfolgungen zu rechtfertigen. Daß sich die israelische Regierung von einem archaischen Rachegott anleiten läßt, wissen wir doch alle. Das wird klar, wenn die vermeintliche israelische Vergeltung als Balkenüberschrift mit dem von Luther falsch übersetzten Bibelvers rausposaunt wird: „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Wer es bis heute nicht kapiert hat, hier ein kurzer Hinweis: Unser deutsches Strafgesetzbuch hält sich an das biblische Prinzip „Auge um Auge“, denn es bedeutet nicht Rache, sondern Geldstrafe für den Täter und Schadensersatz für das Opfer. Luthers Interpretation ist Antisemitismus der übelsten Sorte.

Wenn also dpa über israelische „Vergeltung“ berichtet, dann betreibt ahnungslos die gesamte deutsche Presse von der Tagesschau bis zur letzten Dorfzeitung eine subtile antisemitische Hetze in der besten Tradition des „Stürmers“. In extrem seltenen Fällen reden die Israelis von einer „Péulat Tagmul“, also Vergeltung. Selbst die Zerstörung von Terroristenhäusern bezeichnen die Israelis als „Abschreckung“ und nicht als biblische Rache.

Auch palästinensische Terroranschläge sind nur selten Racheakte. Im Nahen Osten herrscht Krieg. Da geht es Schlag auf Schlag. So zu tun, als sei die Attacke von heute die Reaktion auf den Angriff von gestern, ist lächerlich bei dem Gedanken, daß die Palästinenser 200 Selbstmordattentate seit 1994 ausgeführt haben und die Israelis 200 Palästinenser gezielt oder ungezielt getötet haben. Weder Terroranschläge noch Liquidierungen lassen sich innerhalb weniger Stunden planen, vorbereiten und ausführen.

Ich setze nicht den israelischen Staatsterror mit dem legitimen palästinensischen Widerstand gleich, oder den palästinensischen Terror mit der legitimen israelischen Selbstverteidigung. Mögen Sie für sich selber die passende Formulierung auswählen. Es handelt sich um Wortspiele in einer ekelhaften Wirklichkeit. Für mich hört freilich der Spaß auf, wenn die deutsche Öffentlichkeit mit scheinbar harmlosen Worten und fragwürdigen Ministatistiken gezielt zu Judenhaß, falschem Mitleid und Parteinahme gedrängt wird.

Der Artikel basiert auf einem Vortrag von Ulrich W. Sahm, den der Nahost-Korrespondent auf dem Symposium „Antisemitismus, deutsche Medien und der Nahost-Konflikt“ am 26. Juni 2003 im Paul-Löbe-Haus in Berlin gehalten hat.

Hinweis von Israelnetz: Am Montag dokumentieren wir an gleicher Stelle den Beitrag des Deutschland-Korrespondenten der israelischen Tageszeitung „Yediot Ahronot“, Eldad Beck.

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