Ja, ich gebe es zu: Ich liebe den ESC (und bin damit im Kreise meiner Kollegen relativ allein). Ich liebe die bunten Kostüme, die verrückten Songs über Herzschmerz (immer dabei), Saunagänge (Jahr 2025 „Bara bada Bastu“, Schweden) oder „Wadde hadde dude da“ (Jahr 2000, Deutschland). Ich liebe den Moment kurz vor jedem Auftritt, wenn man nicht genau weiß, was kommt, schon ahnt, dass es musikalisch nicht überragend sein kann (welcher ESC-Beitrag ist es denn schon?), aber freudig vereint bei der Party im Wohnzimmer eigene Punkte auf ausgedruckten Zettelchen vergibt, um sie später mit den Jury- und Publikumspunkten abzugleichen.
Der ESC ist irgendwie die beste und mieseste Version von Europa: qualitativ mittelmäßig bis schlecht und doch in viel Euphorie vereint. Und dabei irgendwie immer liebenswert.
Naja, fast immer. Bisher ist es mit gelungen, über fragwürdige Einzelauftritte hinwegzusehen, etwa jene irische Hexe namens „Bambie Thug“ aus dem vergangenen Jahr. Esoterik und übertriebene LGBTQI+-Symbolik konnten mir bisher nicht den Spaß am Event verderben, das alles erschien mir zu unbedeutend, um mich wirklich darüber zu empören. Mehr als ein stilles Kopfschütteln rang mir das nicht ab, bevor ich null Punkte auf meinem privaten Zettel vergab und mich dem nächsten witzigen und farbenfrohen Beitrag widmete.
Doch seit sich Israel im Krieg befindet, ist mir das Lachen vergangen. Auch beim ESC. Denn wie jeder Krieg ist auch dieser ein in der Kulturwelt diskutiertes Politikum. Das ist richtig so, Kultur hat den Auftrag, sich auch an der Politik abzuarbeiten. Und ja, dazu gehört es auch, Kritik zu üben, etwa an der aktuellen israelischen Regierung und dem, was sich an Zerstörung, Tod und Leid derzeit im Gazastreifen zuträgt. Was aber nicht geht, ist, Opfer zu Tätern zu machen. Antisemitismus. Menschenhass. Und all das verbreitet der ESC seit dem vergangenen Jahr unter den Augen der Öffentlichkeit – und weitgehend unwidersprochen.
Buh- und Boykottaufrufe
Bereits 2024 landete Israels Sängerin Eden Golan mit dem Titel „Hurricane“ weit vorne, auf dem fünften Platz. Nicht etwa dank der internationalen Expertenjury, die votete sie auf Platz 15. Wohl aber wegen der überwältigenden Unterstützung des Publikums, das sie auf Platz 2 sah. Beide Rankings zusammen ergeben die Endplatzierung. Golans Auftritt wurde von Buhrufen übertönt, es gab Protestaktionen am Veranstaltungsort, und auch Mitkandidaten des Wettbewerbs sprachen sich für die Disqualifizierung von Golan aus. Wegen des Krieges zwischen Israel und der Hamas.
Dasselbe in diesem Jahr: Buh- und Boykott-Aufrufe, Vergleiche mit Russland (das in der Tat wegen seines Angriffskrieges gegen die Ukraine vom Wettbewerb ausgeschlossen ist) und die absolute Nonsolidarität der Mitbewerber waren Juval Raphael mit ihrem Song „New Day Will Rise“ sicher, als sie am Samstag auf die Bühne trat. Nur, dass diesmal ein Hamas-Opfer ausgebuht wurde. Raphael ist Überlebende des Massakers vom 7. Oktober. Sie kann heute noch singen, weil sie sich in einem Bunker unter Leichen liegend tot stellte und nach acht Stunden in dieser Lage entkam.
Es verbietet sich, eine Frau wie Raphael auf der Bühne auszubuhen, egal, wie man zur Politik Israels steht. Ebenso wie sich das verbietet, was sich nun nach dem Wettbewerb abspielt. Denn auch Raphael wurde von der Jury abgestraft, vom internationalen Publikum hingegen erhielt sie die meisten Stimmen und wurde so Zweite im Wettbewerb hinter dem österreichischen Gewinner JJ. Der jetzt genauso wie andere Künstler mit Verweis auf Russland einen Ausschluss Israels im kommenden Jahr fordert.
Da bleiben Fragen
Ich als ESC-Fan habe da Fragen. 1. Wie kommt man auf die Idee, den russischen Angriffskrieg mit den Kampfhandlungen zu vergleichen, die Israel zu verantworten hat? Diese beiden Konflikte haben so gut wie nichts gemein, außer, dass dabei Menschen sterben. Was schrecklich ist. 2. Wieso schließt Israel eigentlich trotz guter musikalischer Leistungen (jeder überzeuge sich selbst) verlässlich schlecht bei der Jury-Bewertung ab? Und wieso halten es die anderen Teilnehmer eigentlich nicht aus, dass das Publikum Israels Auftritte offensichtlich goutiert?
Spanien etwa forderte jetzt gemeinsam mit anderen eine Überprüfung des Publikumsvotings. Nicht etwa, weil es Zweifel an dessen rechtmäßigem Ablauf gäbe. Als Begründung nennen die Initiatoren der Idee den Krieg. Aus Belgien, das ebenfalls eine Überprüfung fordert, war folgendes laut „Spiegel“ zu hören: Es lägen zwar keine Hinweise darauf vor, dass die Stimmenauszählung nicht korrekt durchgeführt worden sei. Dennoch forderte der öffentlich-rechtliche Sender VRT „volle Transparenz. Die Hauptfrage ist, ob das derzeitige Abstimmungssystem ein faires Abbild der Meinungen der Zuschauer und Zuhörer garantiert.“
Wem es um Fairness und Transparenz geht, der sollte sich zuerst fragen, ob es nicht durchaus ehrlich und im Sinne des ESC ist, dass ein Gewaltopfer hoch platziert wird. Denn auch das gehört zum ESC, er setzt sich traditionell für die Schwachen ein. 2022 etwa siegte die Ukraine. Im Jahr des russischen Angriffs also. Und wer nun aufgrund eines von manchen ungewollten Ergebnisses ohne Beleg für Manipulation Überprüfungen fordert, der muss sich die noch viel unangenehmere Frage gefallen lassen: Ob er nicht der antisemitischen Erzählung einer jüdischen Weltverschwörung bewusst oder unbewusst auf den Leim gegangen ist. ESC, es sei dir gesagt: Nie wieder ist jetzt!
Von Anna Lutz
2 Antworten
Also langsam reicht es mir. Was soll das und was will dieser JJ eigentlich? Er hat Platz 1 bekommen. Fast hätte Yuval das geschafft. Stört ihn das? Wenn sie es nicht gewesen wäre,dann ein anderes Land. Aber er hat ja gewonnen. Und für Yuval?Das Puplikum hat entschieden. Basta!!!! Was sollte daran nicht richtig sein,oder ungerecht??? Das ist eben deren Meinung. Dann braucht man so etwas nicht veranstalten. Im Übrigen: es ist nur ein Wettbewerb gewesen. Und die Erde dreht sich weiter! Und selbst,wenn Israel nicht dabei gewesen wäre, die Situation in Gaza würde sich nicht ändern.Und was JJ angeht: er sollte sich mal Gedanken machen über Empathie. Das könnte für ihn auch mal kippen. Denn das Eis auf dem er sich bewegt ist auch sehr dünn……
@ Anna Lutz
Super Artikel und Fazit!
Um mich nicht zu wiederholen, verweise ich auf meine Kommentierungen vom 20. und 21.5.25 zum Artikel in diesem Forum vom 19.5.25 „Juval Raphael: „Bin stolz, dass ich diesen besonderen Staat repräsentieren durfte“.
Meine Ergänzung dazu: Ich freue mich unbändig, dass sich die neidischen und missgünstigen Anti-Israel-Akteure so über das sensationelle Publikums-Voting ärgern!