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Mythos um einen gekidnappten Soldaten

993, 994, 995... Jeden Tag wird das Schild am Protestzelt nahe der Residenz des Premierministers zwischen dem Terra Santa Kloster und dem Café "Moment" in Jerusalem ausgetauscht. Jeder in Israel kennt diese Zahlen. Sie werden im Rundfunk vor den Nachrichten und als Clip im Fernsehen gesendet. Eine Sprecherstimme sagt: "995 Tage und Nächte hat Gilad Schalit schon in Gefangenschaft verbracht."

Fast tausend Tage ist es her, seitdem Kämpfer der Hamas nahe Kerem Schalom (Friedenshain) beim Dreiländereck Ägypten, Israel und Gazastreifen einen Tunnel unter den Grenzzaun gebuddelt hatten. Die Palästinenser attackierten eine israelische Patrouille. Der 1986 in Naharija geborene Panzersoldat Gilad Schalit mit französischer und israelischer Staatsangehörigkeit wurde leicht verletzt durch den Tunnel in den Gazastreifen verschleppt. Zwei Soldaten und zwei Palästinenser wurden bei dem Gefecht getötet. Das geschah am 25. Juni 2006. Über die Toten redet kein Mensch mehr. Aber die Chance, einen vermutlich noch lebenden Soldaten aus der Geiselhaft zu befreien, überschattet sogar die Koalitionsverhandlungen von Benjamin Netanjahu, einen Terroranschlag in der Jordansenke mit zwei Toten und die täglich einschlagenden Raketen der Hamas.

Für Israel war fast jedes Mittel recht, um den Soldaten freizubekommen. Ein Kommandounternehmen zu dem unterirdischen Verlies in Rafah, wo Schalit vermutlich festgehalten wird, kam allerdings nicht in Frage, weil der kleinste Fehler dessen sicheren Tod bedeutet. Diese Erfahrung machte Israel 1994 beim Versuch, den nach Ramallah entführten Soldaten Nachschon Waxman gewaltsam zu befreien. Dessen palästinensische Wächter erschossen ihn in den Sekunden, als die Israelis ein letztes Vorhängeschloss an der Tür aufbrachen. Um Druck auf die Hamas auszuüben, bombardierte damals Israel das einzige Kraftwerk im Gazastreifen (und musste später für die Reparaturkosten aufkommen).

Nur drei Wochen nach der Entführung Schalits wiederholte sich der Vorfall an der Nordgrenze Israels zum Libanon. Die libanesische Miliz Hisbollah sah, dass die Entführung lebender Soldaten Israels empfindlichste Schwachstelle ist. Am 12. Juli verübte die Hisbollah ebenfalls einen Überfall auf eine israelische Grenzpatrouille und verschleppte die schwerverletzten und möglicherweise toten Soldaten Eldad Regev und Ehud Goldwasser. In diesem Fall machte Premier Ehud Olmert „kurzen Prozess“ und zog in den Libanon-Krieg. Der dreiwöchige Gaza-Krieg ab dem 27. Dezember 2008 sollte auch zur Befreiung von Schalit führen. Doch diese unrealistische Absicht wurde nie offiziell zum Kriegsziel erklärt.

Zahlreiche Kampagnen für Schalit

Hunderttausende Israelis beteiligen sich seit fast drei Jahren an Kampagnen für Schalit. Auf dem Rabinplatz in Tel Aviv traten bei Massenkundgebungen die populärsten Popsänger auf. Die Zeitungen drucken Kinderbilder von Schalit. Eine bietet ihren Lesern gar einen Zeichensatz der Handschrift von Schalit zum Runterladen an, um Olmert per Computer Bittbriefe zu schreiben. Der französische Präsident Nicolas Sarkozy wurde rekrutiert, da Schalit auch Franzose ist. Kairo vermittelte. In Damaskus und Teheran wurde der Fall Schalit zynisch genutzt, um Israel zu erpressen.

In einem Wettlauf um die Zeit fordert nun die Familie Schalit Premier Olmert in den letzten Tagen seiner Amtszeit auf, den Soldaten heimzuholen, ehe der tausendste Tag seiner Geiselhaft erreicht ist. Hamas-Sprecher reiben sich die Hände und fordern die Familie auf, ihren Druck auf Olmert zu erhöhen, damit Israel alle geforderten 450 Häftlinge entlassen möge, darunter Drahtzieher der blutigsten Terroranschläge während der Intifada. In Kairo laufen „letzte“ indirekte Verhandlungen, ehe der rechtsgerichtete Netanjahu das Ruder in die Hand nimmt und der Hamas weniger attraktive Angebote macht. Ein anderes Druckmittel besitzt Olmert nicht, um die Hamas zu erweichen.

Der israelische Regierungschef ist angeblich bereit, 300 Terroristen „mit Blut an den Händen“ in den Gazastreifen oder ins Exil im Ausland zu schicken. Der von Israel abverlangte Preis für einen einzigen Soldaten ist jedoch für manche Israelis zu hoch. „Wie viele künftige Tote sollen wir opfern, wenn die Mörder unserer Kinder nach kurzer Haft freikommen und die nächsten Selbstmordattentäter losschicken“, fragt beim Café „Moment“ der Vater eines Vierzehnjährigen, der in einem Bus bei Haifa zerfetzt wurde. Im Café „Moment“ starben im März 2002 elf Israelis durch einen Selbstmordattentäter, für den Abdullah Barghuti die Bombe bastelte. 66 Israelis starben durch seine Bomben. Deshalb steht er ganz oben auf der Liste jener Gefangenen, welche die Hamas im Tausch für Schalit fordert.

Freigelassene setzten Terror oft fort

Olmert und Geheimdienstchef Juval Diskin kennen das Dilemma. Doch das ist fast ein Tabu-Thema. Sie wollen nicht die Gefühle der Familie Schalit und Tausender Israelis verletzen. Israel hat schon zahllose Gefangene, darunter blutrünstige Mörder wie Samir Kuntar oder Koso Okomoto, im Tausch für Leichen oder in den Libanon entführte Israelis freigelassen. Manche Freigelassene organisierten erneut Anschläge. Diejenigen, die wieder verhaftet wurden, rechnen jetzt damit, ein zweites Mal nach kurzer Haft wieder im Rahmen eines Gefangenenaustausches freizukommen und ihren „Kampf“ fortzusetzen.

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