Mythos in Person – Jasser Arafat (1929-2004)

Jetzt ist es endgültig und amtlich: Jasser Arafat ist tot. Keinem anderen wurde so oft das Ende vorausgesagt wie Jasser Arafat. Und keiner ist so oft aus dem Friedhof der Politkarrieren wieder auferstanden.

In Israel wird gemunkelt, die israelische Regierung wehre sich deshalb so gegen eine Beisetzung Arafats in Jerusalem, weil dort schon einmal einer nach drei Tagen wieder auferstanden sei. Als Vater des palästinensischen Freiheitskampfes von den einen bewundert, wurde Jasser Arafat von anderen als Vater des modernen Terrorismus gehasst. Bereits zu Lebzeiten war „Abu Amar“, so sein nom de guerre, Legende und Mythos.

Mythen sind schwer zu beschreiben

Mythen sind schwer zu beschreiben – das beginnt im Falle Jasser Arafat schon mit der Geburt. Am liebsten wäre er in Jerusalem geboren, woher seine Familie stammt. Möglicher Geburtsort ist aber auch Gaza, wahrscheinlicher ist Kairo. Auch im Blick auf sein Geburtsdatum scheiden sich die Geister. Vermutlich wurde er irgendwann im August 1929 als Sohn eines reichen Textilhändlers unter dem Namen Muhammad Abdel Ra’uf Arafat al-Kudwa al-Husseini geboren. Somit wäre der Freiheitskämpfer, Erzterrorist und Friedensnobelpreisträger Jassir Arafat 75 Jahre alt geworden.

Aufgewachsen ist der Spross der mächtigen Husseini-Sippe im Schatten des Felsendoms in Jerusalem. Ein Großonkel, Hadsch Amin el-Husseini, war Großmufti im Heiligen Land und glühender Verehrer Adolf Hitlers. Im zweiten Weltkrieg besuchte er sein Idol in Berlin, führte dem „Führer“ ein Bataillon moslemischer Kosovoaren und Albaner zu.

Enttäuscht und angerührt vom Elend der Araber im Heiligen Land, wurde der junge Jassir zum glühenden Nationalisten. Er sah sein Volk verraten von allen, von Israel, den Westmächten, vor allem jedoch von Jordanien. Das Haschemitische Königreich im Osten hatte sich einfach Ostjerusalem und die Westbank einverleibt, statt dort für einen unabhängigen arabischen Staat zu sorgen.

Nach dem Studium der Elektrotechnik in Kairo und ein paar Berufsjahren am persischen Golf, wandte sich der Bauingenieur seiner eigentlichen Passion zu – der „Befreiung Palästinas“. Vor genau 40 Jahren gründete er die „Fatah“, die sich nach dem Sechstagekrieg von 1967 zur stärksten und bestimmenden Fraktion innerhalb der Palästinensischen Befreiungsbewegung PLO mauserte.

„Palästinenser“ zum Markenzeichen

In den 70er Jahren machte er den Begriff „Palästinenser“ zum Markenzeichen seiner Bemühungen und schuf aus dem Nichts ein neues Volk. Seine landläufig „Palästinensertuch“ genannte Keffije schlang er so um den Kopf, dass die Zipfel wie die Landkarte des erträumten Palästinas aussahen. Ein Land, das „vom Mittelmeer bis zum Jordan“ reicht. Für Israel war da kein Platz – und die ursprünglichen Ambitionen reichten auch über den Jordan hinaus. Das ursprüngliche britische Mandatsgebiet Palästina umfasste auch das heutige Königreich Jordanien.

Arafat befahl Flugzeugentführungen, Überfälle auf Busse und Schulen, Diplomatenmorde und die Sprengung von Infrastruktur. 1972 gab er seinem Genossen Abu Da’ud den Befehl zum Überfall auf das Olympische Dorf in München. Allerdings konnte ihm das nie nachgewiesen werden – weshalb ein Vertreter der israelischen Regierung noch im vergangenen Jahr zugeben musste: „Rein juristisch hätten wir heute kein Mittel in der Hand, um Jasser Arafat vor Gericht zu stellen.“ Legendärer Höhepunkt seiner frühen diplomatisch-terroristischen Karriere war der Auftritt 1974 vor der UNO-Vollversammlung in New York – mit umgeschnallter Pistole: „In der einen Hand trage ich eine Pistole, in der anderen den Olivenzweig!“

Als er König Hussein von Jordanien offen die Machtfrage stellte, erteilten die haschemitischen Beduinenkrieger Arafats Fatah-Kämpfern eine blutige Lehre, die als der „Schwarze September“ in die Geschichte einging. Im Süden des Libanon schuf Arafat sich daraufhin eine neue Machtbasis, wieder einen Staat im Staate: „Fatah-Land“. Sechs Jahre später lag die „Schweiz des Nahen Ostens“ in Trümmern, zerstört in einem blutigen Bürgerkrieg, den Arafats Palästinenser nicht unwesentlich mit zu verantworten hatten.

Politisches Comeback des PLO-Chefs

1982 schließlich schien Arafats Stern endgültig zu sinken. Ohne sein geliebtes „Palästinsertuch“ verließ er mit seinen von Israel geschlagenen Kämpfern Beirut auf einem Schiff in Richtung Tunis. Israelische Scharfschützen hatten ihn bereits im Visier. Kein ernst zu nehmender politischer Beobachter wäre damals die Wette auf ein politisches Comeback des PLO-Chefs eingegangen.

Im ersten Golfkrieg Anfang der 90er Jahre solidarisierte er sich offen und charakterfest als einziger profilierter Politiker mit dem Irak des Saddam Hussein. 1994 erhielt er gemeinsam mit Jitzhak Rabin und Schimon Peres den Friedensnobelpreis für einen Handschlag auf dem grünen Rasen vor dem Weißen Haus in Washington, nachdem Israel und die USA ihn auf der verzweifelten Suche nach einem palästinensischen Gesprächspartner aus der Versenkung der politischen Bedeutungslosigkeit geholt hatten.

Im Rahmen der Abkommen von Oslo kehrte Jasser Arafat mit Zigtausenden seiner Getreuen aus dem tunesischen Exil zurück. Er bekam zuerst Gaza und Jericho, später weitere Städte und Gebiete im biblischen Kernland Judäa und Samaria. Im Gegenzug anerkannte er Israels Existenz – die unbestreitbare Existenz des Sechs-Millionen-Staates. Ob er freilich das Recht des jüdischen Staates auf eine Existenz anerkannte, ist eine offene Frage, deren Beantwortung er mit ins Grab nahm. Vielleicht hatte er die Anerkennung des Judenstaates ja so ernst gemeint, wie seine schriftlich in Washington 1993 festgehaltene Beteuerung, künftig alle Meinungsverschiedenheiten mit dem Erzfeind Israel auf friedliche Weise lösen zu wollen.

Jede Gelegenheit verpasst

Im Rückblick ist schwer verständlich, warum er jede Gelegenheit verpasste, den Traum vom unabhängigen Palästina zu verwirklichen. Die anfangs als „spontan“ dargestellte Al-Aksa-Intifada erweist sich bei genauerem Hinsehen als genau geplante Gewaltaktion, deren Ergebnis ein politischer Scherbenhaufen und unsagbares menschliches Leid ist, vor allem auf Seiten der Palästinenser.

In den vergangenen Jahren zeigten sich Risse im „Mythos Arafat“. Unter der Hand gaben nicht wenige Palästinenser dem „Rais“ die Schuld an den Missständen innerhalb der Palästinensischen Autonomie. Abbas Zaki, Gründungsmitglied der Fatah, aus Halhul beklagte sich gegenüber dem US-Magazin Newsweek: „Wo immer Arafat auftaucht, folgen Gesetzlosigkeit, Korruption und Instabilität.“ Und ein Lehrer aus Bethlehem meinte: „Als Arafat nach Gaza und Jericho kam, hat er uns versprochen, ein Hong Kong aufzubauen. Aber er hat daraus ein Somalia gemacht!“ Und der Besitzer eines kleinen Restaurants fügt hinzu: „Glaub‘ mir, selbst unter der israelischen Besatzung mit ihren Ausgangssperren ist es besser, als unter der Palästinensischen Autonomiebehörde.“

Schon immer liebte es Abu Amar, sich mit einer Aura des Geheimnisvollen zu umgeben. Ihn zu verstehen war schwer, wenn nicht unmöglich. In den vergangenen Jahren standen Israel und seine Verbündeten dem Phänomen Arafat eher ratlos gegenüber. Ob das starre Festhalten europäischer Diplomaten an der Bedeutung Arafats politischer Weisheit oder simpler Blindheit entsprang, mag diskutiert werden. Sicher ist nur, dass Abu Amar die Mutation vom Guerilla zum Staatsmann nie geschafft hat.

Den Mann mit dem Stoppelbart, der Revolutionärsuniform und dem schwarz-weißen Kopftuch ob seiner zitternden Lippen, seines aufgedunsenen Gesichts oder seines unverständlichen Englischs vor dem Fernsehbildschirm lächerlich zu machen, gelang vielen. Allein in der direkten Begegnung verstand es kaum jemand, sich dem Charme und Charisma des alten Freiheitskämpfers zu entziehen. Selbst aus der Isolierung seiner zerbombten Mukata’a heraus hielt er in den vergangenen Jahren die Fäden der palästinensischen Politik fest in Händen.

Man bemühte sich, das Gespräch mit dem Friedensnobelpreisträger nicht abbrechen zu lassen – und fand dabei immer neue Beweise dafür, dass Jasser Arafat Terror gegen Israel nicht nur stillschweigend akzeptierte, sondern aktiv promovierte. Man bemühte sich, ihn für irrelevant zu erklären – konnte aber nicht umhin, ihn als den mächtigsten Mann im unübersichtlichen palästinensischen Politdschungel anzuerkennen. Der israelische Kabinettsbeschluss, das Friedenshindernis Arafat zu beseitigen, wurde in Israel kaum kritisiert – allein, das „Wie?“ der praktischen Umsetzung des erklärten Regierungswillens vermochte niemand zu beantworten.

In einem Punkt hinterlässt der eher klein geratene Mann ein überragendes Vermächtnis: Wie kein anderer verstand er es Niederlagen in Siege umzumünzen. Keiner politischen Figur des 20. Jahrhunderts wurde so oft das Ende geweissagt – und ist dann doch zum Erstaunen aller wieder zu neuer Bedeutung auferstanden. Kein Staatsmann ohne Staat wurde so lang anhaltend und von aller Welt umworben und gemieden, verflucht und bewundert, gefürchtet und verehrt, wie Jasser Arafat. Erst mit viel Abstand wird sich sagen lassen, ob mit dem Mann auch der Mythos gestorben ist.

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