Ganz anders ist das Verhältnis zur palästinensischen Autonomieführung in Ramallah, deren „Geistesverwandte“ die Muslimbruderschaft jahrzehntelang teils brutal unterdrückt haben, sei es in Ägypten oder auch in Syrien. Auch heute ist es in der Westbank nicht einfach, Hamas-Mitglied oder gar Salafit zu sein. Präsident Mahmud Abbas und sein Premierminister Salam Fajjad sehen an Mohammed Mursi besonders kritisch, dass er die Hamas als legitime Vertretung der Palästinenser im Gazastreifen behandelt. Ägypten verhandelt mit der Hamas über Sicherheits- und Grenzfragen, sowie über wirtschaftliche und humanitäre Fragen – und ignoriert dabei die Palästinensische Autonomiebehörde (PA), obgleich sie im Prinzip die Verantwortung trägt. Abbas wirft Mursi vor, durch diese Vorgehensweise die Trennung zwischen Westjordanland und Gazastreifen zu zementieren. Er wird nicht müde, zu betonen, dass es nur einen legitimen Präsidenten der Palästinenser gebe.
Autonomiebehörde im Abseits
Tatsächlich gerät die vom Westen als einzige legitime Vertretung des palästinensischen Volkes anerkannte Autonomiebehörde immer mehr ins Abseits. Das wurde klar, als Mursi zum Festtag Eid al-Fitr den Hamas-Premier Ismail Hanije anrief, ihm gratulierte und bei der Gelegenheit ein ausführliches Gespräch über die Lebensbedingungen der Bewohner des Gazastreifens führte. Die Iraner luden gar die Hamas zum Gipfel der Blockfreien ein, machten diese Einladung dann aber wieder rückgängig, angesichts des hörbaren Stirnrunzelns in Ramallah. Im Blick auf den jüdischen Staat Israel muss der neue ägyptische Präsident einen nicht unwesentlichen Spagat zwischen pragmatischen Zwängen und ideologischer Festlegung machen. Dessen realpolitischer Ausgang ist noch nicht absehbar. Gegenüber westlichen Medien und Politikern betonte Mursi, sein Land werde sich an internationale Verträge halten. Das wird von wohlgesinnten Beobachtern als Hinweis auf den Friedensvertrag mit Israel interpretiert.
Ende August reagierte der israelische Außenminister Avigdor Lieberman auf eine derartige Äußerung mit der Einladung, Mursi möge doch israelische Vertreter empfangen, sich von israelischen Medien interviewen lassen und Israel besuchen. „Wer von Frieden und Stabilität redet, muss verstehen, dass das nicht vage und hypothetisch bleiben kann“, erklärte Israels Chefdiplomat. Anfang September war das Aufatmen in Israel greifbar, als Ägyptens neuer Botschafter, Atef Said el-Ahl, seinen Posten – im Rahmen einer ganzen Reihe von Neubesetzungen des diplomatischen Corps – in Tel Aviv einnahm. Der ehemalige ägyptische Konsul in Eilat kennt sein Gastland gut.
„Palästina Toppriorität für alle Araber“
Trotz dieser als versöhnlich interpretierbaren Töne des ägyptischen Präsidenten sieht die Muslimbruderschaft Israel weiterhin als „rassistischen und auf Expansion bedachten Staat“. Hinzu kommt, dass Mursi bei jeder passenden Gelegenheit Jerusalem als „einen der empfindlichsten und schwierigsten Punkte in der palästinensisch-israelischen Frage“ und „Palästina [als] Toppriorität für alle Araber“ bezeichnet – wie zuletzt auf dem 138. regulären Außenministertreffen der Arabischen Liga am 5. September in Kairo. Mursi erklärt freilich nicht, warum die Palästina-Frage so wichtig sei. Angesichts der Probleme und Zigtausenden Toten in Folge des arabischen Frühlings, die den israelisch-arabischen Konflikt längst in den Schatten stellen, sind seine Aussagen eher unlogisch. Auch sind keine Zitate bekannt, in denen er die Behauptung, Israel sei das zentrale Problem der Araber, begründet. Allerdings stellt er sich mit diesen Aussagen in einen unmissverständlichen Zusammenhang.
Professor Gamal Sahran, leitender Politologe an der Universität von Port Said, erklärte am 17. August im „Al-Alam“-Fernsehen im Duktus seines Präsidenten: „Jerusalem ist das Herz der Palästinafrage und Palästina ist das Anliegen aller Araber und Muslime“, um dann fortzufahren: „Deshalb steht die Vernichtung der zionistischen Größe außer Frage.“ Der ägyptische Politikprofessor ist der Ansicht: „Die arabischen Revolutionen, ausgehend von Tunesien, Ägypten, Libyen, dem Jemen, aber auch in Bahrain und an anderen Orten, haben in den Menschen neu die Hoffnung geweckt, dass Jerusalem und Palästina eines Tages zu ihnen zurückkehren werden.“ Dann zieht er eine praktische Schlussfolgerung: „Wir halten die Erinnerung in unserer jungen Generation wach, so dass diese nicht vergisst, dass die Palästinafrage entscheidend ist. Hoffnung und Andenken werden sich irgendwann in Aktion verwandeln. Nächstes Jahr, so Allah will, wird Israel vernichtet sein.“ Der bekannte Geistliche Safwat Hidschasi, der die Kandidatur Mursis aktiv unterstützte, prophezeit: „Millionen marschieren, um die Al-Aksa-Moschee zu befreien, Israel zu vernichten und ein islamisches Kalifat mit der Hauptstadt Jerusalem zu errichten.“
Ahmad Sabi, Medienberater der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei der Muslimbruderschaft, erklärte am 22. August im selben Fernsehkanal, das Friedensabkommen von Camp David sei „eine schwere Bürde für das ägyptische Volk. Es unterminiert die ägyptische Souveränität“. Der einflussreiche Sprecher der größten Partei im ägyptischen Parlament ist überzeugt: Durch den Frieden mit Israel „sind verschiedene Arten von Krebs, Hepatitis und Niereninfektionen“ nach Ägypten gekommen. Drei Tage später bezeichnete der Parlamentsabgeordnete und stellvertretende Vorsitzende der Partei der Muslimbruderschaft, Issam al-Arjan, die Abkommen von Camp David als hinfällig.
Der bereits erwähnte Scheich Hidschasi erläuterte im August im „Al-Kahira Wal-Nas-TV“, dass jeder, der einen Israeli auf der Straße sieht, verpflichtet sei, ihn zu töten. Kurz darauf erschien ein Artikel des ägyptischen Parlamentsmitglieds Hussein Schehata auf der Webseite der Muslimbruderschaft. Darin preist der Dozent an der Kairoer Al-Aschar-Universität den Heiligen Krieg gegen die Juden, „die Nachfahren von Affen und Schweinen“, in Palästina, gegen die Amerikaner im Irak, gegen die Russen in Tschetschenien und die Feinde der Muslime in Kaschmir, Bosnien, Eritrea und Somalia. Der Tag des Gerichts werde kommen, so der ägyptische Parlamentarier, sowie die Muslime die Juden schlagen und Jerusalem befreien. „Wisset, oh ihr fastenden Brüder“, war seine Botschaft zum Fastenmonat Ramadan im Sommer 2012, „der Dschihad geht weiter bis zum Jüngsten Tag, der nicht kommen wird, bis die Muslime die Juden bekämpfen, sie vernichten und Jerusalem befreien.“
Mursis auffallende Weigerung, den Namen „Israel“ auszusprechen und seine Aussagen im Blick auf die Bedeutung des israelisch-arabischen Konflikts stehen in einem Kontext, den der „Cheftheologe“ der Muslimbruderschaft, Scheich Jussuf al-Karadawi, bereits am 18. Februar 2011 bei den Siegesfeiern auf dem Tahrir-Platz in Kairo unmittelbar nach seiner Rückkehr aus vier Jahrzehnten Exil auf den Punkt gebracht hat. Der berühmt-berüchtigte islamische Geistliche meinte, es sei Aufgabe der Muslime, die Juden „zu strafen“, „so wie Hitler das im Holocaust getan hat“.