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Mit dem Kopf durch die Wand?

Frauen werden an der Westmauer in Jerusalem „ausgeschlossen und diskriminiert“. Diese Ansicht vertritt der Journalist Jair Ettinger in der linksliberalen israelischen Tageszeitung „Ha‘aretz“. Schätzungen zufolge kommen jährlich etwa zehn Millionen Beter an die Westmauer.
Anat Hoffmann erklärt ihre Sicht der Dinge.

Ungerecht ist an der Westmauer, die im Deutschen gemeinhin „Klagemauer“, im Hebräischen kurz „Kotel“ genannt wird, dass Männern ein 48 Meter breites Areal zugeteilt ist, während Frauen nur zwölf Meter zur Verfügung stehen. Züchtigkeitspatrouillen achten darauf, dass die Frauen keusch gekleidet sind. Bei den Frauen fehlen Stühle und Gebetbücher. Im Gegensatz zu den Männern, die einen großen Raum unter dem Wilson-Bogen haben, genießen die Frauen keinerlei Schutz vor den Unbilden des Wetters.
Die „Frauen von der Mauer“ kämpfen unter Leitung von Anat Hoffman für ihre Rechte. Sie wollen genau wie die Männer mit Gebetsschal (Tallit) und Gebetsriemen (Tefillin) beten und laut aus der Torarolle vorlesen dürfen. Zu Beginn eines jeden jüdischen Monats erscheinen sie als Gruppe, um ihr Recht in die Tat umzusetzen. Mehrfach wurden Mitglieder der Gruppe verhaftet, etwa im Oktober letzten Jahres, als Hoffman öffentlich die Rezitation des „Schma Israel“, „Höre Israel“, des Glaubensbekenntnisses Israels leitete. Zu groß erschien ihren ultraorthodoxen Glaubensgenossen der Verstoß gegen das an der Mauer akzeptierte Brauchtum, zu groß der Staatsgewalt das Gewaltpotential.
Tatsächlich ist der Streit um die „Frauen von der Mauer“ in den vergangenen Monaten mehrfach eskaliert. Im Mai warfen aufgebrachte Ultraorthodoxe Steine, Abfall und Eier auf die Reformfrauen. Dann tauchten in der Nähe der Wohnung von Peggy Cidor, einer Aktivistin von den „Frauen von der Mauer“, Wandschmierereien auf. „Deine Zeit ist abgelaufen“, drohten schwarze Graffiti. Den Tiefpunkt stellten dann aber definitiv Drohbriefe dar, die an die israelischen Oberrabbiner Jona Metzger und Schlomo Amar, sowie den Rabbiner der Westmauer, Schmuel Rabinowitz, adressiert waren. Sollte den „Frauen von der Mauer“ nicht erlaubt werden, auf ihre Weise zu beten, droht ein Schreiben, werde es „hundert tote Ultraorthodoxe“ geben. „Euer Ende ist nahe“, steht da, und von einer „letzten Warnung“ ist die Rede. Erstmals in der Geschichte Israels wurden die Oberrabbiner des Landes so bedroht. Die „Frauen von der Mauer“ distanzierten sich entschlossen: „Der Stil der Briefe widerspricht eindeutig dem Geist der Liebe Israels, für die unsere Gruppe steht!“

Uneindeutige Fronten

Dabei ist für einen Außenstehenden vieles unklar in dieser Auseinandersetzung, die sich jetzt bald ein Viertel Jahrhundert hinzieht. „Wo gehören die hin?“, ruft ein Polizist angesichts einer Gruppe junger Männer hilflos. Er soll am frühen Morgen des 9. Juni 2013, dem Beginn des hebräischen Monats Tammus nach jüdischer Zeitrechnung, die Streitenden auseinanderhalten. Die Polizei ist zwar mit überwältigender Macht angerückt, hat schwere Metallbarrikaden aufgebaut und beobachtet das Gedränge mit ausdruckslosen Blicken. Aber die Fronten sind alles andere als eindeutig. Männer und Frauen, Orthodoxe, Ultraorthodoxe und offensichtlich Säkulare tummeln sich wild durcheinander. Ein homosexueller Modern-Orthodoxer nutzt die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit, um auf sein eigenes Anliegen aufmerksam zu machen.
Die naive Frage nach dem Grund des Menschenauflaufs am frühen Morgen wird auf unterschiedliche, ja gegensätzliche Weise beantwortet: Es gehe um Frauenrechte, Menschenrechte, Gleichberechtigung und Religionsfreiheit, heißt es da. Man streite darum, wer bestimmt, was am heiligsten Ort des Judentums geschehen darf – und in welcher Form – was überhaupt normativ sei im Judentum. Dabei fällt selbst Experten der israelischen Regierung schwer festzustellen, was beim Status quo an der Westmauer als normativ gilt.
„Wenn die ‚Frauen von der Mauer‘ beim Beten einen Gebetsschal tragen und Gebetsriemen anlegen, schockiert das die Orthodoxen!“, erklärt ein Mann von den „Frauen von der Mauer“. – „Nein, das schockiert mich überhaupt nicht“, erwidert die ultraorthodoxe Leah Aharoni, „Ich habe selbst an einer Talmudschule studiert, in der Frauen öffentlich aus der Torah vorlesen und dabei einen Tallit umlegen.“ Gemeinsam mit Ronit Peskin hat Aharoni im April 2013 die „Frauen für die Mauer“ gegründet. Als Gegengewicht zu den „Frauen von der Mauer“ wollen die „Frauen für die Mauer“ Tradition und Einheit an der Westmauer wahren. „Sehe ich etwa unterdrückt oder benachteiligt aus?!“, legt Peskin nach.
Die beiden Frauen mit Kopfbedeckung und langen Röcken erklären, dass es bei der ganzen Auseinandersetzung um die Freiheit gehe, eine jahrtausendealte Tradition ungehindert ausüben zu dürfen. Sie werfen Anat Hoffman und den „Frauen von der Mauer“ „hasserfüllte Rhetorik“ und „Hetze“ vor. Immerhin hätten sie Israel mit Saudi-Arabien verglichen oder sich den Slogan „die Westmauer zu befreien“ auf die Fahnen geschrieben hat. „Die Kotel wurde 1967 von den Jordaniern befreit. Von wem will sie sie heute befreien?!“, ereifert sich Peskin: „Offensichtlich wollen sie die Westmauer von der überwältigenden Mehrheit der Frauen ‚befreien‘, die heute dort beten.“

„Ha‘aretz begeht Rufmord“

Nach Ansicht der „Frauen für die Mauer“ geht es beim Streit mit den „Frauen von der Mauer“ nicht um Religionsfreiheit, sondern um eine theologische Diskussion. Es gehe nicht darum, dass „fundamentalistische“, ultraorthodoxe Rabbiner Frauen unterdrückten, sondern um eine Auseinandersetzung zwischen Frauen und Männern einerseits, denen ihre eigene Tradition am Herzen liegt, und Menschen andererseits, die motiviert durch ihre liberale Einstellung und ihren Feminismus einseitig am heiligsten Ort des Judentums Veränderungen erzwingen wollen. Ronit Peskin wirft der Tageszeitung „Ha‘aretz“, die sich geweigert habe, mit den „Frauen für die Mauer“ überhaupt auch nur zu sprechen, Rufmord vor. Zur Religionsfreiheit gehöre auch, dass niemand gezwungen werden kann, Werte, die ihm lieb sind, aufzugeben.
Tatsächlich sehen sich die Ultraorthodoxen durch die Praxis der Reformjuden angegriffen. „Geht zurück nach Amerika! Dies ist eine heilige Stätte! Die ist nicht für euch! Geht auf die Dizengoff-Straße in Tel Aviv!“, ereifert sich ein schwarz gekleideter, bärtiger Ultraorthodoxer. „Wir verkünden hier offiziell, dass die Religion der ‚Reformim‘ keine jüdische Religion ist!“, versucht sich ein anderer mit krächzender Stimme Gehör zu verschaffen. Noch einmal skandiert er seinen Slogan, der etwas umständlich und wenig eingängig formuliert ist. Keiner stimmt ein. Sein Anliegen geht im allgemeinen Tumult unter.
„Eins zu null für die Mauerfrauen gegen die Ultras“, resümiert „Ha‘aretz“-Journalist Ettinger beglückt den Verlauf des Neumondgebets von etwa 300 „Frauen von der Mauer“ Anfang Juni. „Noch vor zwei Monaten hat die Polizei Frauen verhaftet, die sich an dieser Stelle in einen Gebetsschal hüllten oder Gebetsriemen anlegten. Heute beschützen sie dieselben Frauen.“ Die „Frauen von der Mauer“ hatten ihr Recht auf freie Religionsausübung gerichtlich eingeklagt und Recht bekommen. Jetzt ermöglicht ihnen ein überwältigendes Polizeiaufgebot, ihr Recht auszuüben.
Die etwa 200 ultraorthodoxen Gegendemonstranten werden von der Polizei auf Abstand gehalten, geben sich aber so leicht nicht geschlagen. Über die Barrikaden geht das Geplänkel weiter. Vor dem Frauenteil sind die Männer der „Frauen von der Mauer“ stehen geblieben und haben sich selbst zum Gebet formiert. Einer kontert das Schimpfen der Ultraorthodoxen: „Du Schababnik!“ – das ist „einer, den man aus der Talmudschule hinausgeworfen hat“. Als Antwort dafür fliegt ein Ei aus den Reihen der Ultraorthodoxen nur knapp an seinem Kopf vorbei und zerplatzt auf heiligem Boden – eines von vier Eiern, die an diesem sonst außergewöhnlich ruhigen Monatsanfang geworfen wurden.
Anat Hoffman ist dafür bekannt, dass sie das Adjektiv „historisch“ gerne gebraucht. „Vielleicht hat sie in diesem Fall aber einmal Recht“, sinniert Ettinger, wenn sie von einem „historischen Gebet“ spricht. Immerhin scheint den „Frauen von der Mauer“ der Beweis gelungen, dass ein Wandel des Status quo in Jerusalem ohne Chaos und Gewalt, von unten initiiert möglich ist.
Schon der Entscheid des Obersten Gerichts aus dem Jahre 2003 hatte angeregt, einen Teil der westlichen Stützmauer des Bezirks, auf dem einst der jüdische Tempel gestanden hat, etwas weiter südlich gelegen und abgetrennt von der traditionellen Westmauer-Plaza, für das Gebet dieser und anderer nicht-orthodoxer Gruppierungen einzurichten. Die Regierung müsse sicherstellen, dass dieser Ort zu einem angemessenen Ort des Gebets ausgebaut würde.

Lösungsvorschlag aus Amerika

In jüngster Zeit wurde der Chef der Jewish Agency, Nathan Scharansky, vom Premierminister damit beauftragt, eine Lösung zu finden. Er griff den zehn Jahre alten Vorschlag des Obersten Gerichtshofs auf. Nordamerikanische jüdische Vereinigungen, darunter orthodoxe, konservative, reformierte und rekonstruktionistische Rabbiner, begrüßten die Idee, am Robinson-Bogen im Gebiet des archäologischen Parks eine weitere Gebetsstätte einzurichten. Doch der konservative Rabbiner David Wolpe aus Los Angeles erkennt richtig: „Es ist viel einfacher, so etwas zu verwirklichen, wenn keine politische Macht im Spiel ist.“ Und zudem beteuern die Männer „von der Mauer“, dass ihre Frauen die Geschlechtertrennung an der Klagemauer gar nicht aufheben, ja nicht einmal in Frage stellen wollen. Der Scharansky-Vorschlag ist nett, stört tatsächlich keinen – ist aber auch keine Lösung der Problems: „Wir wollen beten, wo alle beten!“
Bleibt die Frage: Warum ist dieser Streit gerade jetzt ausgebrochen? Immerhin sind die „Frauen von der Mauer“ bereits seit 25 Jahren aktiv. – Schmuel, einer der Männer der „Frauen von der Mauer“, spricht die Frage aus – und hat gleich die Antwort parat: „Weil die Ultraorthodoxen zum ersten Mal, solange wir denken können, nicht Zünglein an der Waage der Regierungsbildung sind. Weil sie erstmals keinen direkten Einfluss auf die Regierung haben. Hier geht es um viel mehr als nur um das Gebet an der Kotel. Es geht um Macht!“
Vielleicht hat Ronit Peskin Recht, wenn sie Anat Hoffman und den Mauerfrauen unterstellt, dass sie eine ganze Gesellschaftsordnung auf den Kopf stellen wollen: „Ihr Ziel ist politisch. Es geht nicht um Gebet.“ Die ultraorthodoxe Peskin unterstellt der liberalen Hoffman, dass sie das Verhältnis der israelischen Regierung zur Religion verändern wolle. Sie wolle Heiraten, Konversionen, Ehescheidungen und Begräbnisse revolutionieren. Aber derartige Kämpfe gehören, so Peskin, in die Knesset oder auf die Straße. Ausdrücklich wehren sich die „Frauen für die Mauer“ dagegen, dass die „Kotel“ zum politischen Schlachtfeld und Medienzirkus wird.

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