Meinung

„Mein Angesicht wird mitgehen und dich zur Ruhe bringen“

Juden deuten die Wochenabschnitte der Tora auch auf die Gegenwart. Der Text vom vergangenen Schabbat macht Mut in der aktuellen Krise.
Von Nicolas Dreyer

Der Schabbat „Chol HaMoed Sukkot“ unterbricht während des Laubhüttenfestes die Wochentage der Festtagswoche, sogenannte Halbfeiertage. Die dazugehörige Tora-Lesung findet sich in 2. Mose 33,12–34,26. In diesem Jahr wurde sie am vergangenen Schabbat gelesen. Die Verse beschreiben Gottes Handeln an seinem Volk nach dem Tanz um das goldene Kalb am Berg Sinai, die das vorangehende Kapitel schildert.

Kapitel 33 setzt ein mit einer Erinnerung Gottes an eine Verheißung: Das Volk Israel soll Kanaan nach dem Bund Gottes mit Abraham erhalten. Mose wird aufgefordert, das Volk dorthin zu führen. Wegen dessen Halsstarrigkeit wird der HERR nicht selbst in der Mitte des Volkes hinaufziehen. An seiner Stelle soll ein Engel dem Volk voran gesandt werden, um die Feinde zu vertreiben. Die Israeliten reagierten auf diese Botschaft mit Trauer und entledigten sich ihres Schmuckes.

Gott offenbart sich Mose in einer Wolkensäule vor dem Zelt der Begegnung außerhalb des Lagers. Mose erinnert Gott an dessen Zusage, ihm Gunst zu schenken, um das Volk hinaufzuführen. Außerdem verweist er darauf, dass die Israeliten doch Gottes Volk seien, es also seine Sache sei, dafür Sorge zu tragen. Der HERR verheißt ihm: „Mein Angesicht wird mitgehen und dich zur Ruhe bringen“ (Vers 14).

In Kapitel 34 empfängt Mose auf dem Berg Sinai zum zweiten Mal die Zehn Gebote und muss sie diesmal selbst auf die zwei Steintafeln schreiben. Der HERR zieht an Mose vorüber und verkündet dabei seinen Charakter, der von einem Zusammenspiel von Gerechtigkeit und Gnade geprägt ist: „JHWH, JHWH, Gott, barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn und reich an Gnade und Treue, der Gnade bewahrt an Tausenden von Generationen, der Schuld, Vergehen und Sünde vergibt, aber keineswegs ungestraft lässt, sondern die Schuld der Väter heimsucht an den Kindern und Kindeskindern, an der dritten und vierten Generation“ (Verse 6–7).

Mose bekennt die Schuld seines Volkes und tut Fürbitte, indem er um Vergebung bittet. Infolgedessen schließt Gott einen neuen Bund mit Israel und verheißt dem Volk bisher ungekannte Wunder. Zudem beauftragt er es, keinen Bund mit den heidnischen Völkern des Landes zu schließen und sich auf keinen Kompromiss mit deren Götzendienst einzulassen, denn „der HERR, dessen Name ‚Eifersüchtiger‘ ist, ist ein eifersüchtiger Gott“ (Vers 14).

Gott trägt dem Volk auf, Pessach, Schawuot und Sukkot als Pilgerfeste zu begehen und zu den Festen nach Jerusalem hinaufzuziehen. Ferner soll es die Erstgeburt an Mensch und Tier auslösen und den Schabbat heiligen. Gott verspricht: „Dann werde ich die Nationen vor dir austreiben und deine Grenze erweitern. Und niemand wird dein Land begehren, wenn du dreimal im Jahr hinaufziehst, um vor dem Angesicht des HERRN, deines Gottes, zu erscheinen“ (Verse 23–24).

In Israel setzen Ausleger oft die Wochenlesungen aus der Tora zur aktuellen Politik in Bezug. Die Tora bezieht sich zum überwiegenden Teil auf das Land Israel. Deshalb wird die direkte Relevanz von Ereignissen, die dieses Land betreffen, in Kommentaren zum jeweiligen Tora-Abschnitt (hebräisch „Parascha“) stärker wahrgenommen, als dies möglicherweise in der Diaspora der Fall ist.

Dies bedeutet nicht, dass die Wochenabschnitte politisch voreingenommen gelesen werden, und die historische Ebene mit der Gegenwart gleichgesetzt wird. Im Gegenteil werden die biblischen Ereignisse im Licht der exegetischen Tradition des Judentums und seiner Geschichte bewertet.

Dabei lassen sich jedoch immer wieder Parallelen aus der aktuellen jüdischen und israelischen Erfahrung mit Ereignissen aus dem biblischen Israel erkennen. Diese werden theologisch, ethisch, historisch und eben auch politisch diskutiert – ganz im Sinne der jüdischen Tradition, sich immer wieder neu die Geschichte Gottes mit dem Volk zu vergegenwärtigen. Dazu gehören seine Bündnistreue und seine Absicht, sein Volk zu erretten und zu erlösen.

Versagen des israelischen Staates vor zwei Jahren

Vor zwei Jahren, am letzten Tag des Laubhüttenfestes, erfuhr Israel mit den Angriffen des palästinensischen Terrorregimes der Hamas die größte Katastrophe nach der Schoa. Sie ereignete sich ausgerechnet am Freudenfest Simchat Tora. Die Angriffe stellten auch die vielleicht eindrücklichste Bedrohung für die Existenz Israels seit der Gründung des modernen Staates dar. Eine solche Bedrohung seitens der Hamas wurde in Israel fünfzig Jahre nach dem Jom-Kippur-Krieg nicht für denkbar gehalten. Das menschliche Leid der brutal ermordeten, misshandelten und entführten Israelis und Menschen anderer Nationalitäten führte die israelische Gesellschaft in eine tiefe Krise. 

Israel stand beinahe am Rande eines neuen Exils. Der Staat Israel als sichere Zufluchtsstätte für bedrängte und verfolgte Juden weltweit versagte trotz militärischer und technologischer Überlegenheit anfänglich dabei, diese Sicherheit zu gewährleisten. Verschiedene Kommentatoren beobachten infolge dessen eine zunehmende Religiosität der Menschen in Israel, eine Rückbesinnung auf die jüdische Tradition und damit eine moralische Stärkung Israels.

Phase der Erholung in Aussicht

Die neue Waffenruhe und die Rückkehr der noch lebenden und bereits toten Geiseln aus dem Gazastreifen nach Israel wird hoffentlich zu einer Phase der Erholung für Menschen in Israel führen. Eine Heilung des Traumas wird in dieser Generation kaum möglich sein, wenn überhaupt. Wenn mit der Waffenruhe die dringlichen Diskussionen um die richtige Kriegsführung in Gaza abebben, kann sich die israelische Gesellschaft den Fragen widmen, wie sie sich entwickeln möchte, auch jenseits der weiterhin notwendigen militärischen und politischen Aufarbeitung der Krise.

Als Christen können wir uns von der vorliegenden Parascha inspirieren lassen, dafür zu beten, dass dieser Moment in der israelischen Geschichte dem Volk wirklich eine Ruhe ermöglicht. Wir können Gott bitten, dass sein Angesicht erkennbar wird, das Volk sich weiterhin ins Land Israel ziehen lässt, sowie die Feinde Israels vom Begehren des Landes abgehalten werden.

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Eine Antwort

  1. Mose bekennt die Schuld seines Volkes und tut Fürbitte, indem er nicht nur um seine eigene Vergebung, sondern um Vergebung für das ganze Volk bittet.
    Das beflügelt mich, jeden Tag neben meiner eigenen Schuld um Vergebung zu bitten, weiter in Fürbitte für Israel und dem jüdischen Volk einzustehen. Und Gott ist langsam zum Zorn, aber reich an Gnade und Barmherzigkeit, Treue und Vergebung. Das nehme ich heute für mich mit in diesen Tag.

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