Kriegsziele – aus Sicht der Hisbollah

Anfangs schien es ganz klar, was die radikal-schiitische Hisbollah-Miliz bezweckte, als sie um 8.30 Uhr am Mittwochmorgen des 12. Juli 2006 eine schwere Salve von Katjuscha-Raketen und Mörsergranaten auf den Norden Israels abschoss, um damit von der Entführung zweier Soldaten abzulenken. „Eigentlich hat der Austausch von Gefangenen in der Vergangenheit immer funktioniert“, beantwortete der libanesische Präsident Emile Lahud die Frage des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ nach den Bedingungen für die Freilassung der israelischen Soldaten.

Drei Libanesen saßen zum Zeitpunkt des Angriffs in israelischen Gefängnissen. Das sind Nissim Nasser, der 2002 wegen Spionage für die Hisbollah von Israel verhaftet wurde; Jechie Skaff, ein Hisbollah-Kämpfer, der 1978 mit einer Gruppe von Palästinensern in einem bewaffneten Boot vor Israels Küste gefasst wurde – und, der wohl bekannteste von allen: Samir Kuntar, der bei den Palästinensern als Nationalheld gilt.

Kuntar gehört nicht zur schiitischen Hisbollah, sondern landete 1979 im Auftrag der säkular-sunnitischen Palästinensischen Befreiungsbewegung PLO per Boot gemeinsam mit einigen anderen „Freiheitskämpfern“ am Strand der nordisraelischen Küstenstadt Naharija. Dort drangen sie um Mitternacht in die Wohnung der israelischen Familie Hadar ein. Smadar Hadar, die Mutter, konnte sich mit ihrer zweijährigen Tochter Jael in einem Schrank verstecken. Dort versuchte sie das Kleinkind am Schreien zu hindern – und erstickte in ihrer Panik die eigene Tochter.

Die Terroristen schleppten derweil ihren Mann Dani und die vierjährige Tochter Einat an den Strand. Als Samir Kuntar klar wurde, dass eine Flucht unmöglich war, schoss er Dani Hadar in den Rücken und ertränkte ihn vor den Augen seiner Tochter. Die kleine Einat schmetterte Kuntar danach gegen die scharfen Felsen der nordisraelischen Küste und zerschlug ihr anschließend mit dem Gewehrkolben den Schädel.

Hat nun Scheich Hassan Nasrallah die Zerstörung des Libanon in Kauf genommen, um diese drei „Helden“ freizupressen? Vermutlich war der Generalsekretär der „Partei Allahs“ selbst über die israelische Reaktion überrascht. Immerhin hatte es sich seine Organisation seit Israels Rückzug im Mai 2000 mehrfach leisten können, weitgehend ungestraft die von den Vereinten Nationen Mitte des vergangenen Jahrhunderts als so genannte „Blaue Linie“ festgelegte Grenze zwischen Libanon und Israel zu verletzen. So konnte die Hisbollah im Oktober 2000 drei israelische Soldaten am Fuße des Hermon entführen – und bekam für deren Leichen Hunderte von arabischen Terroristen ausgeliefert.

Vielleicht hat der jüngste Libanonkrieg aber auch Gründe, die über das persönliche Kalkül des Hisbollah-Chefs hinausgehen. Die Hisbollah bekommt nämlich ihre Mittel und ihre Befehle aus Persien. Möglicherweise ließ die radikale schiitische Führung in Teheran ihre Miliz am Litani in Aktion treten, um von den eigenen Problemen mit einer Welt, die den atomaren Ambitionen der islamischen Republik Grenzen setzen will, abzulenken.

Denkbar wäre auch, dass der syrische Präsident Baschar al-Assad die Gunst der Stunde nutzte, um sich an der westlichen Welt und vor allem an den anti-syrischen Bevölkerungsteilen des Libanon zu rächen. Immerhin musste er im vergangenen Jahr seine Armee unter wenig rühmlichen Umständen aus der Zedernrepublik zurückziehen, obwohl Syrien die malerischen Gebirgszüge am Mittelmeer doch seit jeher als Teil des eigenen Landes beansprucht. Nicht nur der Libanon, auch das heutige Jordanien und die Gebirgszüge bis nach Hebron gehören im Volksmund zu den „Bilad a-Schams“, den „Gefilden von Damaskus“. Jetzt bot sich dem Alawiten-Diktator aus Damaskus die Gelegenheit, via Hisbollah dem verhassten Israel eins auszuwischen und gleichzeitig die zu erwartende harte Reaktion des jüdischen Staates über seine Hasser im Libanon kommen zu lassen.

Wenn US-Präsident George W. Bush die Kriegsziele der Hisbollah nur zu gerne in die des weltweiten islamischen Dschihad einordnen möchte, sei Vorsicht angemahnt. Der saudi-arabische Scheich Safar al-Hawali, einer der geistlichen Nährväter Osama Bin Ladens, hat die „Hisbollah“ (übersetzt „Partei Allahs“) gerade erst als „Partei des Teufels“ bezeichnet und seine Anhänger über seine Internetseite aufgefordert: „Betet nicht für die Hisbollah!“ Osama Bin Ladens Stratege Ajman al-Sawahri hat zwar in der zweiten Kriegswoche per Video alle Muslime aufgerufen, sich dem Heiligen Krieg gegen Israel im Libanon und in Gaza anzuschließen, aber sein Mitstreiter Abu Mussab al-Sarkawi, der gefallene Al-Qaida-Chef im Irak, war noch anderer Meinung gewesen. Er hatte die Schiiten als „schlimmer als die Amerikaner“ bezeichnet und brutal bekämpft.

Der tiefe Graben zwischen der sunnitischen Muslimbruderschaft einerseits, die in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts in Ägypten entstanden ist, und zu deren Sprösslingen die Hamas und der Palästinensische Islamische Dschihad genauso gehören, wie Al-Qaida, und der Schia andererseits, zu der sich die iranischen Machthaber und die libanesische Hisbollah zählen, ist noch lange nicht überbrückt – und wird offensichtlich nicht einmal vom Hass auf „die zionistische Größe“ zugeschüttet. Voreilige Trugschlüsse, die bequem westliche Schwarz-Weiß-Schemata bedienen und von der legendären muslimischen Einheit – die aber eben ins Reich der Märchen und Legenden gehört! – genährt werden, können nur zu schnell zu Fehlurteilen mit langfristig fatalen Folgen führen.

Wenn die Hisbollah diesen Krieg überlebt und als Miliz funktionsfähig bleibt, hat sie die Auseinandersetzung eigentlich schon gewonnen – ganz gleich wie hoch der Schaden ist, der dem Zedernland zugefügt wurde und wie viele Menschenopfer auf der eigenen Seite dafür gebracht werden mussten. Die Reaktion der Weltöffentlichkeit auf die Bilder von toten Libanesen hat gezeigt, dass diese in der Regel ein Propagandasieg für die radikalen Schiiten sind.

Die islamische Welt – und in diesem Falle scheinen die Grenzen zwischen Sunniten und Schiiten tatsächlich zu verschwimmen – feiert bereits den Sieg der Kämpfer Allahs im Südlibanon. Im Suk der Altstadt von Jerusalem sind die Loblieder auf Nasrallah zu hören und die CDs und Musikkassetten finden (selbstverständlich unter dem Ladentisch!) reißenden Absatz. In Gaza werden bei jedem „erfolgreichen“ Raketenangriff auf Israel Süßigkeiten verteilt und auf dem Manara-Platz in Ramallah ist das Bildnis des Volkshelden Hassan Nasrallah allgegenwärtig. Schon jetzt hat die Hisbollah den Ruf, sich nicht dem Diktat des dekadenten Westens gebeugt und damit die Ehre der islamischen Welt gerettet zu haben. Der 70-jährige Christ und oberste Vertreter des libanesischen Volkes, Emile Lahud, weiß: „Ohne den Widerstand [der Hisbollah] wäre der Libanon auch heute noch [von Israel] besetzt.“

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