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Wo steht die Türkei im israelisch-palästinensischen Konflikt?

Die Türkei ist ein zerrissenes Land – zerrissen zwischen Orient und Okzident, Islamismus und Laizismus, Großmachtstreben und Bedeutungslosigkeit. In diese erfolglose Identitätssuche lässt sich auch ihre wechselhafte Nahostpolitik einordnen.
Erdoğan ist eine schillernde Persönlichkeit – und passt damit gut zu dem Land, dessen Präsident er ist

Die türkische Republik feiert im Jahr 2023 ihr hundertjähriges Bestehen. Das wird sicherlich ein Anlass für pompöse Festakte sein, hinter denen ein Wermutstropfen verborgen bleibt. Das Datum markiert nämlich gleichzeitig das Ende des Osmanischen Reiches, dessen Rechtsnachfolger die heutige Türkei geworden ist. Sie verfügt nur noch über einen winzigen Bruchteil ihrer ehemaligen Größe und Macht.

Das Andenken an den einstigen Ruhm wird unter den Türken wachgehalten. Viele der arabischen Nationen, die sich 1945 zur Arabischen Liga zusammengeschlossen haben und jetzt die Türkei für ihre Interventionen verurteilen, lagen gefühlt gestern noch in ihrem Herrschaftsbereich. Dazu gehört auch der Landstrich Palästina, der vor dem Ende des Ersten Weltkriegs und der britischen Mandatszeit vier Jahrhunderte lang osmanisch regiert wurde. Die Türkei kann keine Ansprüche mehr auf dieses Gebiet geltend machen, würde aber doch gern mitreden.

Identitätskonflikte

Weil die Türken kein Arabisch sprechen und außerdem als verwestlicht gelten, sehen viele Araber sie als Muslime zweiter Klasse. Die junge Republik unter ihrem ersten Präsidenten Mustafa Kemal Atatürk entwickelte sich tatsächlich in rasantem Tempo Richtung Westen, was so wesensfremd nicht war. Immerhin war das heutige Istanbul vorher Konstantinopel, die Hauptstadt des Römischen Reiches, und davor die griechische Metropole Byzanz. Die Hagia Sophia war eine byzantinische Kirche, bevor sie nach dem Fall Konstantinopels 1453 zu einer Moschee mit Minaretten, dann zum Museum und im Jahr 2020 unter dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan wieder zur Moschee wurde.

Nicht nur Erdoğan ist eine schillernde Persönlichkeit. Die gesamte Türkei schwankt zwischen ihren verschiedenen Identitäten hin und her. Erdoğan präsentiert sich gern als Vorkämpfer in islamischen Angelegenheit und nutzt dafür Konflikte, sei es der Arabische Frühling, der Bürgerkrieg in Syrien oder eben der israelisch-palästinensische Konflikt. Nur scheint ihn dabei niemand besonders ernst zu nehmen. Von einer Führungsposition in der islamischen Welt ist die Türkei genauso weit entfernt wie von einem EU-Beitritt. Das schmerzt.

Zwischen Israel und „Palästina“

Während des Nationalsozialismus konnten viele Juden in der Türkei Schutz vor Verfolgung finden. Heute hat das Land Beobachterstatus bei der „International Holocaust Remembrance Alliance“ und tut damit mehr als andere islamische Länder, um auf das Leid der Juden im Nationalsozialismus aufmerksam zu machen. 1949 war die Türkei eines der ersten Länder überhaupt, das Israel anerkannte und im Folgejahr dort eine Botschaft eröffnete.

Die Beziehungen zwischen Israel und der Türkei sind auch seit Erdoğans Amtsantritt nicht so schlecht, wie die derbe Rhetorik des egomanischen Präsidenten glauben macht. Eine gute Beziehung zu Israel ist für die Türkei sehr viel lukrativer als die Anerkennung der islamischen Welt. Die beiden Länder arbeiten auf politischem, wirtschaftlichem, militärischem und geheimdienstlichem Gebiet eng zusammen. Wenn israelische Truppen in der Türkei landen, dann sind sie zum Training eingeladen. Nur gewährt die Türkei der Hamas das gleiche Privileg. Sie bietet hochrangigen Funktionären der Terrorgruppe Unterschlupf und hat vielen von ihnen sogar die türkische Staatsbürgerschaft verliehen. Das schützt sie vor Israels Zugriff, während sie von der Türkei aus weiter operieren können. Die Behauptung, Erdoğans anti-israelische Tiraden seien bloße Rhetorik, ist also falsch.

1988 hat die Türkei als einer von bislang 138 UN-Mitgliedstaaten auch „Palästina“ als Staat anerkannt. Erdoğan donnerte während der elftägigen Operation „Wächter der Mauern“ gegen Israel und unternahm einfallsreiche diplomatische Anstrengungen, um sich in den Konflikt einzumischen. Dazu gehörte der Vorschlag einer internationalen islamischen Schutztruppe für Gaza und ein Anruf bei Papst Franziskus, um ihn zu Sanktionen gegen Israel zu bewegen – zwei Vorhaben, die krachend gescheitert sind.

Außerdem investierte die Türkei auch über die Stimme ihres Präsidenten hinaus in antisemitische Propaganda. Laut dem israelischen „Institut für Nationale Sicherheitsstudien“ (INSS) machten vor allem die Webseiten der regierungsnahen Nachrichtenagenturen „Anadolu“ und „TRT World“ den Konflikt zu ihren Hauptthemen und beeinflussten in den Sprachen der islamischen Welt die öffentliche Meinung mit einseitig pro-palästinensischer Berichterstattung. Darin sei die Hamas als Widerstandsorganisation vorgestellt worden statt als Terror-Organisation. Arabische Aggressionen und jüdische Opfer seien nicht erwähnt worden.

Einmischung in Israel als Ablenkungsmanöver

Wahrscheinlich konzentriert sich die Türkei wie auch andere islamische Länder nicht zuletzt deswegen so auf das Leid der Palästinenser, weil sie damit von innenpolitischen Problemen ablenken kann. Innen- und außenpolitisch steht die Türkei unter Druck wegen Menschenrechtsverletzungen gegenüber Journalisten und der kurdischen Minderheit. Ein weiteres Problem ist die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern, der zu allem Überfluss kürzlich von den USA anerkannt wurde.

Obendrein hat die Covid-19-Pandemie große Löcher in den türkischen Haushalt gerissen. Da kommt es wie gerufen, wenn das Land sich an Israels statt an den eigenen Problemen abarbeiten kann. Wenigstens bei diesem Thema weiß Erdoğan die Mehrheit der Türken hinter sich.

Israel gibt sich geduldig

Zweifellos muss Israel die Machenschaften seines cholerischen Verbündeten genau beobachten. Aber es fällt auch auf, dass die Worte und Taten Erdoğans im jüdischen Staat verhältnismäßig gelassen aufgenommen werden, sogar dann, wenn es um die Unterstützung der Hamas geht. Es war den beiden Ländern gelungen, sich nach dem Zwischenfall mit der türkischen Gaza-Flotte 2010 wieder zu versöhnen. Der damalige israelische Premierminister Benjamin Netanjahu hat sich 2013 sogar dafür entschuldigt.

Nachdem Erdoğan 2018 als Reaktion auf den Gaza-Konflikt seinen Botschafter aus Israel abgezogen hatte, soll er parallel zu seinen neuerlichen Wutanfällen schon wieder auf Annäherungskurs sein. Man muss der Türkei zugutehalten, dass sie bei all der wüsten „Kritik“ an dem angeblichen „Terrorstaat“, „Apartheidregime“ und „Kindermörder“ Israel nie eine Vernichtung des jüdischen Staates gefordert hat und ihre Taten weit hinter ihrer Rhetorik zurückstehen. Vielleicht denkt sich Israel: „Besser ein unberechenbarer Freund als dieselbe Person zum Feind“. Denn der jüdische Staat ist auf Freundschaften in der Region angewiesen, auch wenn diese brüchig sind. Und vielleicht kann Israel auch besser als viele andere den Spagat zwischen Orient und Okzident nachempfinden.

Von: Carmen Shamsianpur

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