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Die Rückkehr eines Helden

Perspektivlosigkeit, Langeweile und Israel-Hetze führen in vielen palästinensischen Flüchtlingslagern im Westjordanland zu einer überdurchschnittlich hohen Zahl an Gefängnisaufenthalten in Israel. Die Häftlinge gelten in ihrem Volk als Helden. Die palästinensische Regierung belohnt ehemalige Insassen mit teilweise üppigen „Gehältern“.
In den Straßen Deheisches kündigen Plakate die Freilassung Aimans an.
Januar 2014, Deheische, ein Flüchtlingslager südlich von Bethlehem: Es ist ein sonniger Nachmittag und knackig kalt. Gegen 15 Uhr haben sich die Nachbarn der Familie M. vor ihrem Haus versammelt, etwa 30 Männer sitzen um ein kleines Feuer versammelt. Sie rauchen und trinken starken Kaffee. Kinderrufe hallen durch die engen Gassen, Motoren heulen auf, der Muezzin ruft zum Gebet, inzwischen ist es zehn vor fünf. Alle warten auf Aiman. Wann wird er kommen? So ganz sicher ist seine Rückkehr aus dem Gefängnis nicht. Heute ist Donnerstag, und wenn die Juden es sich anders überlegten, käme er erst am Sonntag frei. Denn morgen und am Samstag arbeitet bei denen keiner. Die Frauen im Innenbereich sitzen um ein kleines Elektroheizgerät. Im Hintergrund läuft eine der beliebten türkischen Serien, auf einem kleinen Fernseher mit verkrisseltem Bild. Aimans Schwester Duaa erzählt: „Mein Vater ist zweimal verheiratet. Mit seiner ersten Frau hat er fünf Kinder, mit meiner Mutter acht. Meine Mutter hat früher in Jerusalem als Reinigungskraft in einer Schule gearbeitet. Aber nun tut ihr der Rücken weh und sie kann diese Arbeit nicht mehr tun. Heute darf sie nur noch am Freitag nach Jerusalem zum Gebet. Dafür hat sie eine Extra-Erlaubnis.“ Die 25-Jährige hat selbst mit 14 geheiratet und ist heute dreifache Mutter: „Ich bin hier in Deheische aufgewachsen, mir geht es gut, ich habe ein schönes Leben.“ Ihre ältere Schwester Hajat stößt dazu. Sie hat fünf Kinder, ihr Mann Samer ist seit vier Jahren im Gefängnis. „In zwei Wochen wird auch er heimkommen. Er ist ein wichtiger Kämpfer der PFLP, der ‚Volksfront für die Befreiung Palästinas‘.“ Alle warten auf Aiman, man spricht darüber, dass die drei Jahre Haftstrafe nun endlich vorüber sind. Warum Aiman im Gefängnis gewesen ist, will keiner seiner Verwandten und Freunde so recht wissen. Seine Mutter ist jedenfalls überzeugt: „Er hat doch nichts getan. Er war zusammen mit seinen Freunden. Sie haben gespielt. Und dann haben sie ihn mitgenommen. Die Juden nehmen einfach alle mit. Wenn sie jemanden in Gegenwart eines anderen sehen, der Steine wirft, kommen sie am nächsten Tag und holen ihn ab. Aiman jedenfalls kommt heute nach Hause.“ Die Mutter freut sich sichtlich.

Die Party beginnt

Es ist halb sechs, als verkündet wird, dass Aiman tatsächlich nach Hause kommt. Am Abend soll es soweit sein. Die Frauen tirilieren. Durch den nackten Betonbau hallt der Freudenruf: „Er kommt nach Hause, er kommt nach Hause, er kommt nach Hause!“ Im Nu versammeln sich immer mehr Nachbarn und Verwandte, es wird noch mehr Kaffee gereicht, man unterhält sich munter. Gegen sieben Uhr bekommen die vielen kleinen Kinder eine rote Kufija, das traditionelle arabische Kopftuch, als Stirnband umgebunden. Aimans Brüder und einige Nachbarn fahren in einem Autokonvoi dem Häftling entgegen. Die Kinder sind fröhlich, sie lachen, es herrscht Festtagsstimmung. Ein kleines Mädchen ruft vergnügt: „Hochzeiten sind schön.“ Niemand weist sie darauf hin, dass das heute keine Hochzeit, sondern eine Häftlingsentlassungsfeier ist. Feiern ist eben feiern. Zwischendurch rufen die Männer an. Aiman muss noch neu eingekleidet werden. Die Frauen tanzen oben auf der Dachterrasse, sie trommeln und singen aufgeregt nationale Lieder.

„Steinewerfen macht Spaß!“

Unter den Gästen ist auch Bilal, Aimans Cousin aus dem Lager Kalandija. Auch der Vater des 17-Jährigen sitzt im Gefängnis. Der Junge erinnert sich: „Ich war fünf, als die Juden kamen und ihn abholten. Klar weiß ich noch, wie das war. Heute bin ich mit meiner Mutter allein zu Haus. Weil auch mein älterer Bruder im Gefängnis ist. Der hat eine Bombe auf den Checkpoint Kalandija geworfen. In sechs Monaten kommt er frei.“ Bilal erzählt das alles scheinbar unbekümmert und wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, fügt er an: „Das ist aber nicht schlimm, meine Mutter und ich kommen auch gut ohne die beiden klar. Von der Regierung bekommen wir jeden Monat genug Geld, deshalb brauche ich auch nicht zu arbeiten.“ Er fügt grinsend hinzu: „Ich gehe jeden Freitag am Checkpoint Kalandija Steine werfen. Willst du auch mal mitkommen? Das macht Spaß!“

Die Rückkehr

Um kurz nach acht fährt ein hupender Autokonvoi vor das Haus der Familie M. Sie tragen Aiman auf Händen in die Menge der Nachbarn und Verwandten. Aus dem Teenager, der im elterlichen Wohnzimmer milchbubimäßig von den Fotos herablächelt, ist ein Mann geworden. Wild sieht er aus, hat einen zotteligen Bart und lange Haare. Er wird von den etwa 250 Frauen und Männern freudig begrüßt. Wie ein großer Held wird er von Nachbar zu Bruder, von Tante zu Onkel und Freunden weitergereicht. Etwas Wildes liegt in seinem Blick: Wie fühlt sich wohl ein Mensch, der drei Jahre in Haft, viel allein mit sich war, und nun gefeiert wird, als hätte er eine heroische Tat begangen? Sein hoher Adrenalinspiegel steht ihm ins Gesicht geschrieben. Auf den Fotos und in den Erzählungen wirkte er eher ruhig. Doch heute ist SEIN Tag. Er wird umarmt, küsst die Hände seiner Mutter und Tanten, Nachbarn klopfen ihm auf die Schulter und flüstern ihm zu: „Den Zionisten hast du’s gezeigt!“ Ehemalige Mithäftlinge sind ebenfalls da und rufen: „Das war sicher nicht das letzte Mal, dass du es mit der Besatzung aufgenommen hast. Alle Achtung!“

Feiern mit Vorbehalt

Aiman ist 21 Jahre alt, sein 14 Jahre älterer Bruder Adnan steht mit seiner jüngsten Tochter etwas abseits und sagt halb ernst und halb spaßig: „Ich war noch nie im Gefängnis, aber wenn ich mir anschaue, was für eine schöne Feier er bekommen hat, dann sollte ich wohl überlegen, mich auch mal inhaftieren zu lassen.“ Hier, in dieser Umgebung und an diesem Tag entsteht tatsächlich der Eindruck, dass jede Familie mindestens eine Person in Haft hat oder einmal hatte. Statt nach den Ursachen und Gründen der Inhaftierung zu fragen, wird pauschal die Besatzung verantwortlich gemacht: „Wir müssen ja für unsere Rechte kämpfen. Die Besatzung ist böse.“ Es sind die lauten Stimmen, die die Haft so betrachten, als wäre es eine unabwendbare Naturkatastrophe. Die leisen Stimmen, wie Aimans Bruder Adnan, stehen am Rand und tuscheln nachdenklich vor sich hin. Auch seine Schwiegermutter sagt kaum hörbar: „Ich mag diesen ganzen Rummel nicht. Alles in allem muss man doch sagen, dass der Junge gegen das Gesetz verstoßen hat. Ich war noch nie im Gefängnis bei den Israelis. Und es ist ja nicht so, dass sie grundlos kommen und dich mitnehmen …“

Unterhalt für Häftlinge

2011 wurde in der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) ein Gesetz verabschiedet, nach dem israelischen und palästinensischen arabischen Häftlingen in israelischen Gefängnissen ein monatliches „ratib“ zugesteht. Das Wort lässt sich mit Gehalt, Besoldung oder Honorar übersetzen. Die Höhe der Zahlung richtet sich nach der Dauer der Haftstrafe. So bekommen Gefangene für längere Haftstrafen mehr Geld als kürzer Inhaftierte. Außerdem bekommen verheiratete Gefangene mehr als ledige, Eltern mehr als kinderlose. Für Araber aus Ostjerusalem und israelische Araber gibt es einen Zuschlag, den Palästinenser aus dem Westjordanland oder dem Gazastreifen nicht bekommen. Die minimale Zahlung an Gefangene liegt bei umgerechnet etwa 300 Euro für bis zu drei Jahren Haft. Bei mehr als 30 Jahren beträgt das „Grundgehalt“ umgerechnet rund 2.600 Euro. Das palästinensische Durchschnittseinkommen liegt bei etwa 470 Euro. Die PA muss Häftlingen in israelischen Gefängnissen außerdem die Möglichkeit für akademische Studien bieten. Weiterhin werden Kindern von männlichen Häftlingen, die zu mehr als 20 Jahren verurteilt sind und mindestens fünf Jahre der Strafe abgesessen haben, 80 Prozent der Studiengebühren erlassen. Das gleiche gilt für Kinder von weiblichen Gefangenen, die zu mindestens zehn Jahren verurteilt sind und mindestens drei davon abgesessen haben. Mehr als 5.500 palästinensische Sicherheitshäftlinge waren Ende 2014 in Israel inhaftiert. Doch nicht jeder Häftling kommt in den Genuss der Gelder. Nach dem Häftlingsgesetz von 2004 definiert die PA all jene als Häftlinge, die „infolge ihres Widerstandes gegen die Besatzung inhaftiert sind“. Das bedeutet, dass Autodiebe keine Zahlung bekommen, Attentäter hingegen schon. Die Absicht dieser Zahlungen ist „die Versorgung von Häftlingen in israelischen Gefängnissen und ihrer Bedürfnisse“. Die Gehälter werden vom Tag ihrer Inhaftierung bis zum Tag der Entlassung bezahlt, sofern die entsprechenden Finanzen vorhanden sind. Die Zuwendungen werden aus dem allgemeinen Budget und Steuergeldern bestritten. Das allgemeine Budget in der PA wird zu fast der Hälfte von ausländischen Geldgebern bestritten, wobei die USA und die Europäische Union den größten Teil beisteuern.

Ein Ex-Häftling mit sich im Reinen

Januar 2015: Trotz der Sonne, die freundlich auf Deheische scheint, wirkt die Situation im Lager trostlos. Dabei gibt es viele Bemühungen von internationaler Seite, Hoffnung hineinzubringen: Etwa 70 Familien erhalten durch das 1994 gegründete Kulturzentrum „Ibdaa“ (Kreation, Schöpfung) regelmäßiges Einkommen. Duaa wohnt mit ihrer Familie direkt neben dem ansprechenden Bau, dem anzusehen ist, dass eine Menge Geld darin steckt. Für ihre Nachbarn hat sie kein freundliches Wort übrig: „Die vom Ibdaa-Center sind Betrüger. Leute aus aller Welt kommen und bringen ihnen Geld. Doch die stecken alles in die eigene Tasche.“ Seit vergangenem Sommer wohnt Hajat wieder bei ihren Eltern, die fünf Kinder sind bei den Eltern ihres Mannes. „Samer kam letztes Jahr frei, wir haben uns scheiden lassen, wenige Monate später wurde er wieder inhaftiert.“ Sie erzählt das so routiniert, als würde sie über die nächste Hauptmahlzeit sprechen. Auch Cousin Bilal ist inzwischen inhaftiert. Er wurde von den Israelis beim Steinewerfen in Kalandija erwischt. Dafür ist sein Bruder, der Bombenbauer, wieder auf freiem Fuß. Aiman verlobte sich vier Wochen nach seiner Haftentlassung und heiratete drei Monate später. Seine Frau heißt Fatma, ist 18 Jahre alt und war damals auch bei der Häftlingsentlassungsfeier dabei: „Aiman war mit meinem Bruder zusammen im Gefängnis und wir kannten uns schon als Kinder.“ Sie lächelt ihren Mann verschämt an: „Als er aus dem Gefängnis kam, war das ne tolle Sache, aber als er dann Interesse an mir zeigte, wollte ich eigentlich nicht.“ Aimans Vater resümiert: „Aiman war 35 Monate im Gefängnis. Also fast drei Jahre. Wäre er zwei Jahre länger geblieben, würde er heute jeden Monat 4.000 Schekel (etwa 900 Euro) bekommen. Es gibt Gefangene, die bekommen sogar 12.000 Schekel (circa 2.700 Euro). Wenn die Kinder kürzer als drei Jahre im Gefängnis sitzen, lohnt sich das finanziell nicht. Da zahlt man immer drauf. Allein deshalb ist es gut, dass er wieder da ist.“ Über den geschiedenen Schwiegersohn Samer sagt er: „Der bekommt jeden Monat 4.000 Schekel von der Regierung. Damit lässt sich schon was anfangen.“ Familie M. hat für das junge Paar Aimans altes Kinderzimmer umgebaut: Neben dem kleinen Schlafzimmer gibt es eine Kochnische und ein winziges Badezimmer. An den Wänden hängen Aimans Fotos von früher, aus der Zeit, bevor er im Gefängnis war. Das Video seiner Entlassungsfeier spielt er abwechselnd mit dem seiner Hochzeit auf einem großen Flachbildschirm an der Wand ab. Er erzählt, dass er im Gefängnis seinen Schulabschluss gemacht hat. Im Lager findet er zwar keine Arbeit, doch ins Gefängnis möchte er trotzdem nicht zurück: „Ich verehre die PFLP nur noch in meinem Zimmer, nicht mehr auf der Straße. Ich habe Verantwortung für meine Frau.“ Er ist nicht wütend wegen der Zeit im Gefängnis, wirkt irgendwie zufrieden und mit seiner Situation versöhnt.

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