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„Slichot“ und „Jamim Nora’im“: Ein Ruf zur Versöhnung

In den ersten Tagen des jüdischen Jahres stehen Buße und Umkehr im Vordergrund. Juden bitten Gott um Vergebung für ihre Sünden. In Jerusalem treffen dabei Traditionen aus unterschiedlichen Kulturen aufeinander.
Bußgebete in den frühen Morgenstunden

„Gott mitten in der Nacht aufzuwecken, ist Grund genug, Slichot zu sagen!“ – Es ist vier Uhr morgens. Wir sind im Jerusalemer Stadtviertel Nachlaot unterwegs. Der mir das sagt, ist ein säkularer Jude. „Davka“, „aus Trotz“, isst er am Jom Kippur Schweinefleisch. Im Unterschied zu säkularen Nichtjuden scheint für ihn aber festzustehen, dass es einen Gott gibt, und dass man ihn aufwecken kann. Er ist sich darüber im Klaren, dass am Jom Kippur gefastet werden sollte und Schweinefleisch grundsätzlich unkoscher ist. Und er weiß, was „Slichot“ sind. Was er nicht bedacht hat, bekennt der Beter eines biblischen Psalms: „Der Hüter Israels schläft noch schlummert nicht!“
„Slichah“ ist das hebräische Wort für „Entschuldigung“. „Slichot“ sind wörtlich übersetzt Entschuldigungen, Bitten um Vergebung. Sie stehen unter dem Leitmotiv: „Vater, wir haben gesündigt. Sei uns gnädig!“

Gebete in der Früh

In Nachlaot werden kurz nach vier in der Früh die ersten Fenster der engen Gassen hell. Fromme Frühaufsteher machen sich auf den Weg in die Synagoge. Sephardische Juden beginnen bereits im Monat Elul, dem letzten Monat des jüdischen Jahres, die Bußgebete zu beten. Aschkenasische Juden fangen je nach Tradition irgendwann in den zwei Wochen vor Rosch HaSchanah an, spätestens jedoch vier Tage vor Neujahr. Bis zum 10. Tag des Monats Tischrei, dem Jom Kippur, prägen die Slichot die frühen Morgenstunden in den Synagogen. Früher war das Viertel „Nachlaot“, das übersetzt „Erbgrundstücke“ heißt und heute im Zentrum von Westjerusalem liegt, eigentlich viele kleine Siedlungsflecken. Da gab es Syrer und Türken, Griechen und Jemeniten, alles Juden, die ihre Kultur, Eigenarten, Dialekte und Bräuche mitgebracht haben. Ende des 19. Jahrhunderts waren sie ins Land Israel gekommen, aus dem Irak, Arabien, Persien und Nordafrika, aber auch aus Osteuropa. Jede Gemeinschaft baute ihre eigene Synagoge, so dass das Viertel bis heute die weltweit höchste Synagogendichte aufweist.
Wenn man zur Zeit der Slichot am frühen Morgen durch die stillen Gassen geht, erspürt man auch heute noch die Unterschiede: den Wechselgesang der „Urfalim“, die aus dem Ort Urfal in Kurdistan kamen. In regelmäßigen Abständen fallen die Beter dem Vorsänger ins Wort. Unter dem Fenster der jemenitischen Juden hört man deren gemeinsames Singen. Wenige Meter weiter klingt das individualistische Murmeln der aschkenasischen Orthodoxen durch die finsteren Gemäuerschluchten. In der Adas-Synagoge mit den Wandmalereien und der geschnitzten Stirnwand taucht man unversehens in die Welt des mittelalterlichen Aleppo.
Die Slichot sind ein Brauch, eine jüdische Sitte, keine Gesetzesvorschrift. Sie werden deshalb in der Regel ohne Tallit, den traditionellen Gebetsmantel, gesprochen, und – was entscheidend ist! – sie sind ganz freiwillig. Deshalb haben die unterschiedlichen Mentalitäten auch mehr Ausdrucksfreiheit. Lebensfrohe orientalische Juden betonen die Vergebung ihres himmlischen Vaters und deuten die Buchstaben des Monatsnamens Elul als Anfangsbuchstaben des Satzes: „Ani LeDodi UDodi Li“ – „Ich gehöre meinem Geliebten und mein Geliebter gehört mir.“ Strenge osteuropäische Juden hören in derselben Buchstabenfolge völlig zerknirscht die Worte: „Oi Li ULeJitzri“ – „Wehe mir und meinem (bösen) Trieb.“
Die jüdische Tradition verankert diese Bußzeit in der Heiligen Schrift. Nachdem sich Israel das Goldene Kalb gemacht hatte, soll Mose am 1. Tag des Monats Elul wieder den Berg Sinai bestiegen haben, um vor Gott die Vergebung der Sünden des Volkes zu erbitten. Vierzig Tage später kehrte er exakt am 10. Tischrei, dem Großen Versöhnungstag, wieder zurück. Er brachte die beiden steinernen Gesetzestafeln mit, als Zeichen der erneuerten Gnade Gottes.
Als es noch keine Wecker und zur rechten Zeit piepsende Armbanduhren gab, so erzählt man sich, soll ein Weckdiener mit Laterne durch die wenigen Viertel außerhalb der Altstadtmauern von Jerusalem gelaufen sein, durch Nachlaot, Mea Schearim und Jemin Mosche. Um drei Uhr morgens schrie er gnadenlos: „Slichooooot, Slichooooot!“ Damals sei auch noch jedermann aufgestanden, Alt und Jung, um Slichot zu sagen. Heute huscht nur noch Reb Salman durch die dunklen Sträßchen. Er ermahnt ungestüme Schulkinder, die die Slichot als Gelegenheit genutzt haben, eine Nacht ohne Aufsicht durchzumachen, mit strengem Blick, aber offensichtlich wenig erfolgreich, Rücksicht auf die Anwohner zu nehmen und still zu sein.

Großes Interesse der Säkularen

In diesen frühen Morgenstunden sind in Nachlaot die letzten Überreste der jüdischen Kulturenvielfalt zu erfahren. Sie konnten dem Judenhass ihrer Nachbarn ins Gelobte Land entkommen. Dafür werden sie jetzt unerbittlich vom kulturellen Schmelztiegel des modernen Israel verschlungen. Neugierig sind in den frühen Morgenstunden zwischen Rosch HaSchanah und Jom Kippur Schulklassen, Touristengruppen und ganze Soldateneinheiten in Nachlaot unterwegs, um etwas von dieser verschwindenden Welt zu erhaschen.
Viele Synagogen haben sich auf den Ansturm der jungen Israelis, die ihre Kultur vergessen haben, vorbereitet. Sie bieten am Eingang Kippot, die kleinen runden Kopfbedeckungen an, weil ein Mann einen jüdischen gottesdienstlichen Raum nicht mit unbedecktem Kopf betreten darf. Die ultra-orthodoxen, schwarz-gekleideten Aschkenasen sind nicht so gut organisiert. Bei der Frage nach einer Kippa sieht sich der alte Rebbe etwas hilflos um, hebt dann aber mit einem verschmitzten Lächeln seinen schmierigen Hut und zieht seine eigene schwarze Jarmulke darunter hervor. Dass der junge Mann, dem er liebevoll seine Kopfbedeckung leiht, gar kein Jude ist, kümmert ihn nicht.
Nach dem Schacharit, dem Morgengebet, wird wieder das Schofarhorn geblasen. Der Schall des Widderhorns ist ein Weckruf an jeden, der geistlich eingeschlafen ist. Vor allem aber verkündet er die Wiederherstellung all dessen, was ins Ungleichgewicht geraten ist, die Freilassung aller Gebundenen.
„Herr, Herr, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue, der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde, aber ungestraft lässt er niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied“, erinnern sich die Beter an die Begegnung Moses mit dem lebendigen Gott auf dem Berg Sinai, wo ebenfalls der Schofar ertönte.
Die jüdische Schriftauslegung sieht darüber hinaus eine Beziehung des Schofars mit dem Widder, den Abraham einst anstelle seines einzigen Sohnes auf dem Berg Moriah geschlachtet hatte und weist so hin auf das Kommen des Messias und die Auferstehung von den Toten.
So folgt unmittelbar auf Rosch HaSchanah das „Gedalja-Fasten“. Man gedenkt Gedalja Ben Ahikams, der im Jahre 586 vor Christus nach der Eroberung Jerusalems durch die Babylonier von diesen als Statthalter eingesetzt worden war. Er wurde von Leuten aus dem eigenen Volk ermordet (2. Könige 25,22 – 26). Politisch links-gerichtete, orthodoxe Juden haben in den vergangenen Jahren an diesem Tag einen besonderen Gottesdienst auf dem Rabin-Platz in Tel Aviv gefeiert. Sie stellten eine Verbindung her zwischen dem ersten politischen Mord an einem führenden jüdischen Politiker zur Zeit des ersten Tempels und der Ermordung des israelischen Premierministers Jitzhak Rabin am 4. November 1995.
Die ersten zehn Tage des jüdischen Jahres sind Tage der Umkehr. Auf Hebräisch werden sie „Jamim HaNora’im“, „Ehrfurcht gebietende Tage“ oder auch „Furcht erregende Tage“, genannt. Gott öffnet die Bücher. Die Völker müssen Rechenschaft ablegen. Der Sabbat, der in diese Zeit fällt, ist der „Schabbat Schuvah“, der „Sabbat der Umkehr“. Ein Text aus Hosea 14,2 – 10 wird verlesen, der mit den Worten beginnt: „Bekehre dich, Israel, zu dem Herrn, deinem Gott; denn du bist gefallen um deiner Schuld willen …“

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