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Shimon, mein Taxifahrer

Mit 160 km/h fährt Shimon in Richtung Flughafen – erlaubte Höchstgeschwindigkeit sind 90 Stundenkilometer. Es ist frühmorgens um 4 Uhr und stockdunkel. Nein, wir sind nicht zu spät dran. Wir fahren nur auf der Straße 443, dem direktesten Weg von Nordjerusalem zum Ben-Gurion-Flughafen. Und an dieser Straße wurde in den vergangenen Tagen und Wochen mehrfach auf israelische Autos geschossen. Die 443 führt nur wenige Hundert Meter an der palästinensischen Autonomiestadt Ramallah vorbei. „Mich bekommen sie nicht!“ lacht Shimon: „Deshalb habe ich auch das Licht ausgeschaltet…“

In biblischer Zeit war diese natürliche Trasse zwischen der Priesterstadt Gibeon und der Küstenebene als „Steige von Beit-Horon“ bekannt. Als Josua das Land Israel eroberte, ließ der Herr in dieser Gegend große Steine vom Himmel auf die Feinde Israels fallen, so erzählt die Bibel, und Sonne und Mond über dem Tal Ajalon stillstehen, damit die Israeliten ihren Kampf zuende führen konnten (vergleiche Josua 10,11-14). Eine israelische Zeitung bezeichnete diesen historischen Zugang zu Jerusalem einmal als „Blutstraße“. Mehrere Autofahrer wurden auf der zur vierspurigen Autobahn ausgebauten 443 von palästinensischen Terroristen erschossen.

Das war vor fast einem Jahr. Nachdem die Israelis im Rahmen der Operation „Schutzwall“ in Ramallah einmarschiert sind, ist Ruhe eingekehrt. Der Verkehr strömt wieder, mittlerweile gibt es sogar schon wieder Staus auf dieser Straße. Kein Richter würde heute mehr einen Verkehrssünder freisprechen, wie jenen Autofahrer, der mit mehr als 180 km/h erwischt wurde, dann aber glaubhaft machen konnte, daß es ein größeres Risiko sei, auf der „Blutstraße“ langsamer zu fahren. „Wir sind doch keine Enten, die dasitzen und warten, bis sie abgeschossen werden!“, war die Argumentation, die dem Raser aus der Patsche half. Auch Shimon verkehrt heute wieder gesittet und mit eingeschalteten Scheinwerfern zwischen Tel Aviv und Jerusalem.

Aber mein Problem mit dem Ruf der 443 ist geblieben. Manche Taxifahrer vom Toten Meer brauchen gar eine Sondergenehmigung, um Jerusalem anfahren zu dürfen. Zu groß ist die Angst vor dem Unbekannten, vor den „Gebieten“, die auch viele brave Israelis lediglich aus den Medien kennen. Oder dann kommt es vor, daß mir ein Taxifahrer am Flughafen verspricht, mich nach Nordjerusalem über die 443 zu fahren. Bei Modi’in, kurz vor dem Übergang in die „besetzten Gebiete“ bekommt er es dann aber doch mit der Angst zu tun und läßt mich kurzerhand aussteigen, einfach so, mitten in der Landschaft. Nur gut, daß Shimon nur einen Telefonanruf entfernt ist und mich abholt.

Auf der Fahrt durch die Berge von Samaria erklärt er mir dann, daß Taxifahrer noch ganz andere Probleme mit Sonderwünschen haben. Der eine will wegen der Sitze nur Mercedes fahren. Der nächste bestellt das Taxi unter der Bedingung, daß das Auto nicht aus deutscher Produktion stammt. Einer vermerkt bereits bei der telefonischen Bestellung, daß er nur mitfährt, wenn er rauchen darf. Ein anderer will nur in ein Auto steigen, in dem noch nie geraucht wurde. Je nach Vorstellung der Kunden muß die Taxizentrale per Bestellung einen „jungen“, „hübschen“, „netten“ oder auch „erfahrenen“ Fahrer schicken. Und natürlich gibt es Frauen, die steigen nur zu einer Frau ins Auto.

Überhaupt, setzt Shimon die Liste möglicher Kundenwünsche fort, sind religiöse Fragen ein ganz entscheidender Faktor für einen Taxifahrer im Heiligen Land. Natürlich gibt es religiöse Juden, die würden nie zu einer Frau ins Auto steigen. Einer erbittet ein Taxi ohne Radio, während ein anderer eine ganz bestimmte Musik erwartet. Nicht selten muß Shimon die Fahrt für die vorgeschriebenen Gebete unterbrechen oder für seine Fahrgäste einen „Minyan“, die für den Synagogengottesdienst vorgeschriebenen zehn Männer, suchen. Eine Rabbinersfrau wollte zwar mit ihm fahren, „aber nicht in der Nacht“ oder „nur in der Stadt“. Sobald sie dann die Stadt verlassen, muß Shimon alle Fenster öffnen, damit die Dame sich nicht entgegen der jüdischen Gebote mit einem fremden Mann in einem geschlossenen Raum befindet.

Als ob das alles nicht hinreichte, um meinem armen Shimon den Kopf rauchen zu lassen, gibt es dann immer noch die „unkomplizierten“ Fahrgäste, die mit guten Ratschlägen und Bitten nicht sparen: „Fenster auf – Fenster zu… Radio aus – Radio an… Fahr nicht schneller als 100 km/h – Jetzt beeil‘ dich aber…“ – „Taxifahren ist eine Lebensschule“, erklärt Shimon schmunzelnd und deutet noch manches „seelsorgerliche“ Gespräch und persönliche Geheimnis an, das dem Taxifahrer auf kurzen oder längeren Fahrten, einmaligen Begegnungen oder regelmäßigen Transfers anvertraut wurde: „Aber darüber darfst du nicht schreiben!“

Trotz aller Lebenserfahrung, die sich ein israelischer Taxifahrer im Laufe der Zeit sammelt, gibt es immer wieder Situationen, die Shimon sprachlos werden lassen. Alle Taxis im Heiligen Land haben Taximeter. Das hält viele Israelis jedoch nicht davon ab, über den Preis verhandeln zu wollen. Normalerweise hilft der Verweis auf feste Preislisten und die Pflicht, eine Quittung auszustellen. Vor einiger Zeit setzte eine Kundin allerdings ein Mittel ein, gegen das Shimon machtlos war. „Wenn du mir meinen Preis nicht gibst,“ drohte sie, „zerreiße ich mir mein Hemd, springe aus dem Wagen und fange an, laut zu schreien!“

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