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„Keine andere Identität als die jüdische“

Der israelische Historiker Saul Friedländer überlebte die Schoah in einem streng katholischen Internat in Frankreich. In seinen wissenschaftlichen Werken verarbeitete er auch seine eigene Vergangenheit. Im Oktober 2007 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Mit Israelnetz sprach der 78-Jährige über Identität, Heimatlosigkeit sowie den Umgang mit der Last des Holocaust in Deutschland und in Israel.

Israelnetz: „Mit ganzer Seele hatte ich mich dem Katholizismus verschrieben“ – so beschreiben Sie Ihre Glaubenssituation nach dem Zweiten Weltkrieg in Ihrem Buch „Wenn die Erinnerung kommt“. Sie wollten sogar Priester werden. Dennoch fanden Sie zum Judentum zurück, das Sie allerdings so nie gekannt hatten. In Ihrer Kindheit und Jugend haben Sie mehrmals Ihren Namen geändert – auch von Paul in Saul. Wie würden Sie heute Ihre Identität beschreiben?

Saul Friedländer: (lacht) Haben Sie keine leichtere Frage? Das ist selbstverständlich das Problematische, Sie haben ja eine Ahnung von meinen vielen Vornamen. Von Pavlicek, der kleine Paul auf Tschechisch, und Pavel, über Paul, als ich nach Frankreich kam, dann Paul-Henri Marie Ferland in diesem katholischen Internat, und als ich 1948 mit der „Altalena“ nach Israel kam, fragte man mich: „Was ist dein hebräischer Name?“ Und da ich keinen hatte oder nichts darüber wusste, dachte ich: Naja, Saul ist zum Paul geworden, jetzt mache ich den Schritt zurück, also vom Paul zu Saul. Das war meine neue Identität, die israelische, aber wenn die Antwort ganz kurz sein soll: Ich bin Jude, kulturell und im Gedächtnis. Ich bin überhaupt nicht religiös. Das Katholische ist weg, davon ist nichts Religiöses geblieben. Das Jüdische habe ich nur langsam zurückbekommen. In Israel bin ich noch ins Gymnasium gegangen, habe schnell Hebräisch gelernt und dann später Hebräisch gelehrt, aber meine Identität: Ich bin Jude, und das eigentlich wegen der Schoah. In diesem Sinn hat meine Identität sehr kurze Wurzeln, aber die sind sehr stark. Ich bin israelischer Staatsbürger seit 1948, und heute bin ich auch dazu Amerikaner, aber das sind nur formelle Identitäten, das Judesein hat damit nichts zu tun.

Ist trotzdem etwas von Ihrer katholischen Epoche übrig geblieben?

Selbstverständlich, ja. Ich muss sagen, dass etwas Ästhetisches geblieben ist, das ist für mich ganz sonderbar: Wenn ich kirchliche Musik höre oder in eine Kathedrale hineingehe – und ich gehe öfter, wenn ich in Europa die Gelegenheit habe – und wenn ich der Predigt oder der Musik zuhöre, dann rührt sich so eine ästhetische Erinnerung. Ich hatte als Kind sehr viel Gefühl für die kirchliche Musik und versuchte ohne irgendeinen Erfolg, Harmonium zu spielen (lacht). Ich verfolge die Debatten und lese mit größtem Interesse, was in der Kirche passiert. Das tue ich jedoch nur, weil ich mehr davon weiß als jeder beliebige jüdische israelische Staatsbürger.

Sie kommen ursprünglich aus Prag und sind als Junge vor der Judenverfolgung nach Frankreich geflohen. Ihre Eltern haben Sie im Holocaust verloren. Hat Europa trotz allem noch etwas von Heimat für Sie?

Heimat nicht. Ich fühle mich nirgendwo wirklich zu Hause. Ich fahre ständig an einen anderen Ort. In Israel habe ich gelebt und in der Schweiz habe ich lange gelehrt, später bin ich nach Amerika gegangen. Ich werde mich bald emeritieren lassen, im Juni, und dann lautet die Frage konkret zusammengefasst: Wohin soll ich gehen? In Amerika bleiben? Amerika ist für mich Kalifornien. Oder soll ich zurück nach Israel, oder in Europa Zeit verbringen? Es gibt eine kulturelle und physische Verbindung. Ich bin gern hier, ich liebe die Wälder, denselben Wald finden Sie weder in Israel noch in Amerika, jedenfalls nicht in dem Teil, den ich kenne. Europa hat etwas Konkretes, Physisches für mich, aber eine Heimat ist es nicht, kann es auch nicht sein. Obwohl, wäre ich 1948 in Frankreich geblieben, vielleicht wäre ich doch ein eingewurzelter Franzose geworden, französischer Jude selbstverständlich, aber es ist anders passiert, ich bin nach Israel gegangen und empfinde keine Nostalgie im Zusammenhang mit Europa.

Das „gebieterische Aufbrechen der Vergangenheit“ nennen Sie als Auslöser des Buches „Wenn die Erinnerung kommt“. Nach eigener Aussage haben Sie mit Hilfe der historischen Quellen versucht, „den Sinn einer Epoche zu begreifen und die Vergangenheit, nämlich meine eigene Vergangenheit, in einen logischen Zusammenhang zu stellen“. Ist Ihnen das Ihrer Meinung nach gelungen?

Das weiß ich nicht. Ein paar Leute, Rezensenten und andere, haben gemerkt, dass dieses zweibändige Werk „Das Dritte Reich und die Juden“, das ich irgendwie zu Ende geschrieben habe, eigentlich eine erweiterte Autobiographie ist – mit den Stimmen der verfolgten Juden, die das Buch prägen. Es sind viele kleine Stimmen, und ein paar Leute haben gemerkt, dass ich als Kind auch diese kleine Stimme hatte. Vielleicht hat mir das geholfen, mich dieser ziemlich großen historischen Arbeit zuzuwenden. Das Persönliche hat sich dann ins Historische gewandelt. Ob es gelungen ist, müssen die Leser beurteilen.

Der Börsenverein bezeichnete Sie 2007 als „den epischen Erzähler der Geschichte der Schoah“ und ehrte Sie mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Wie ist es zu diesem besonderen erzählerischen Stil gekommen, der unter anderem Ihr vielbeachtetes Hauptwerk „Das Dritte Reich und die Juden“ kennzeichnet?

Nicht, weil ich genau daran dachte, sondern es ist teilweise intuitiv gekommen. Es ist auch aus der Debatte mit Martin Broszat herausgekommen. Seine These war ja, wie er mir sagte: Wir, die Opfer, seien nicht imstande, objektiv über diese Dinge zu schreiben. Sondern wir hätten eine mythische Erinnerung. Das fand ich grob und habe geantwortet: Wenn man in der Hitlerjugend war, hat man auch eine Vergangenheit und eine subjektive Wahrnehmung. Diese Wahrnehmung muss man als Tatsache annehmen. Aber wenn man sich dessen bewusst ist, kann man eine Geschichte schreiben, die vielleicht etwas mehr sensibel ist als eine Geschichte, die nur auf Archiven und dokumentarischem Material von der Seite der deutschen Behörden beruht, wie andere es geschrieben haben. Ich fühlte die ganze Zeit, dass nicht nur ich als jüdischer Historiker zeigen musste, dass wir imstande sind, die Sache akribisch darzustellen. Noch dazu hatte ich den Wunsch, die Stimmen der Opfer ganz präsent zu machen, um dieser Art „Schadensabwicklung“, wie Habermas sagte, entgegenzuwirken.

Sie befassen sich mit Papst Pius XII. Wie ist die Kooperationsbereitschaft im Vatikan bei Ihrer Forschung?

Null. Mein Verlag in Paris, bei dem das Buch „Pius XII. und das Dritte Reich“ 1964 erschien, war ein katholischer Verlag. Ich hatte es absichtlich dorthin gegeben, um gegen mich selbst eine Garantie zu haben. Der Verleger diese großen Verlages ist ein guter Freund geworden. Er war bis zu seinem Tode ein gläubiger Katholik, und er ist nach Rom gefahren und hat mit dem Kardinalstaatssekretär von Paul VI., dem Kardinal Casaroli, gesprochen. Er hat ihm erklärt, dass ich diese deutsche Dokumentation habe, die ich im Auswärtigen Amt gefunden hatte, als ich meine Dissertation schrieb. Er fragte, ob ich in die Vatikanarchive hinein kann, um das zu ergänzen, und die Antwort war, wie sie bis heute ist: Keinesfalls. Das ist ja das Schwierige an dieser Geschichte: Man findet schon hier und da neue Sachen, aber solange man die Dokumente des Vatikans aus der Kriegszeit nicht hat, kann man diese Geschichte nicht wirklich so schreiben, wie man sie schreiben sollte. Und die wollen einfach keine Forscher hineinlassen.

Wie schätzen Sie den europäischen und vor allem deutschen Umgang mit dem schweren Erbe des Holocaust ein? Schafft es Deutschland, eine gesunde Balance zwischen Erinnerung und historischer Distanz zu finden?

Nach meiner Erfahrung sind die deutschen Zuhörer die sensibelsten und die seriösesten. Die jüngere Generation ist sehr an dem Thema interessiert. Wenn ich einen Vortrag über die Schoah halte, finde ich in Deutschland die stärksten und klügsten Reaktionen und die besten Fragen und so weiter. Diese Balance ist manchmal von außen betrachtet vielleicht nicht tief. Und es kann auch sein, dass heute viele denken: Man hat genug darüber gehört und will schon etwas anderes hören. So eine Debatte gibt es immer wieder. Aber im Großen und Ganzen ist die Antwort auf Ihre Frage: ja. Über Europa kann ich nicht soviel sagen. Aber hier in Deutschland findet man wirklich eine Art Balance.

Auch die Opfer der Judenverfolgung und ihre Nachkommen hatten Schwierigkeiten, „das Unbegreifliche zu begreifen“. Wie bewerten Sie den aktuellen israelischen Umgang mit dem Holocaust und seinen Folgen?

Eigentlich eine schwere Frage. In Israel pendelte es immer. Am Anfang wollte man eigentlich von den europäischen Juden nicht viel hören, weil das nicht die Beispiele des neuen Menschen waren, den man in Israel erzeugen wollte. Der typische Sabra war ein Kämpfer, aber nicht ein passives Opfer, deswegen waren die Ghetto-Kämpfer die Helden, die wie die Israelis waren, aber nicht die Masse der Getöteten. Das hat sich geändert. Nach dem Eichmann-Prozess ist eine größere Sensitivität auch in Israel entstanden. Heute bin ich zu wenig da und nehme nicht an diesen Debatten teil, aber ich sehe, dass meine zwei Bände vor einigen Monaten ins Hebräische übersetzt wurden. Die Leute haben sehr stark reagiert und geschrieben, und nicht nur meine Generation, sondern auch Studenten, wirklich jüngere Leute. Es gibt also eine Präsenz der Vergangenheit in Israel, die doch ein Teil der israelischen Identität ist.

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