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Jerusalem im Streit um die Wahrheit

Jerusalem hat viele Gesichter. Orient und Okzident, Vergangenheit und Zukunft, Judentum, Christentum und Islam treffen in der ewigen Stadt aufeinander. Ein Manager im Nadelstreifenanzug steigt in einen nagelneuen Mercedes. Wenige Meter daneben reitet ein Araber auf seinem Esel vorbei, mit der traditionellen Galabieh bekleidet.

Die Menschen, die seit etwas mehr als drei Jahrzehnten als Palästinenser bezeichnet werden, stammen aus Syrien, dem Libanon, Saudi-Arabien oder Ägypten, aus der Türkei oder vom Balkan. Ihre Namen und Gesichter verraten das, und manchmal erzählen sie es auch. Alis Großvater, zum Beispiel, ist in den 30er Jahren aus dem Tschad zur Al-Aqsa-Moschee gepilgert und dann einfach dageblieben.

Das biblische Zion hat im Laufe der Geschichte viele Menschen angezogen, deren Gesichter heute untrennbar zum Stadtbild gehören: Armenier, Russen, Griechen und Äthiopier, um nur einige zu nennen. In den vergangenen 200 Jahren sind Juden aus mehr als 100 Ländern in die Stadt Davids zurückgekehrt. Seit die Palästinenser aus Sicherheitsgründen nur noch eingeschränkt nach Israel kommen dürfen, sind die Gastarbeiter aus China, Thailand, Rumänien und von den Philippinen aus Jerusalem nicht mehr wegzudenken.

Alle diese Menschen haben ihre religiösen Traditionen, Sitten, Gebräuche, Sprachen und Denkweisen mit nach Jerusalem gebracht. Auch wenn man eine gemeinsame Sprache spricht, bedeutet das noch lange nicht, daß man sich versteht. Grundverschiedene Vorstellungsweisen oder Assoziationen, die mit bestimmten Worten, aber auch Bildern, Geräuschen oder Gerüchen verbunden sind, können zu Mißverständnissen führen.

Das Glockenläuten der Kirchen in Jerusalems Altstadt vermittelt mir ein wohliges Gefühl, ein Stück Heimat inmitten des oft so fremden Orients. Erinnerungen aus der Kindheit, an das Abendgebet in der großelterlichen Stube werden wach. – Ganz anders bei einem guten Freund. Wenn er den Klang der Glocken hört, denkt er an seine Großmutter, die aus ihrer polnischen Heimat erzählt: „Wenn die Glocken läuten, dann kommen sie, dann beginnt der Pogrom…“ Wir hören beide dasselbe Geräusch, bezeichnen es mit demselben Wort und verbinden doch ganz unterschiedliche Bedeutungen damit.

Im religiösen Bereich – und in Jerusalem hat fast alles irgendeinen Bezug zu irgendeinem Glauben – kann es leicht passieren, daß für den einen Lüge ist, was der andere als Wahrheit vertritt. So werden Muslime nicht müde, zu behaupten, auf dem Haram a-Sharif, dem Tempelberg, habe nie ein jüdischer Tempel gestanden. Sheikh Ekrima Said al-Sabri, der Großmufti von Jerusalem, betont: „Es gibt nicht den geringsten Beweis dafür, daß hier jemals ein jüdischer Tempel gestanden hat!“

Ein „Kurzer Reiseführer für den Haram a-Sharif“, der 1930 vom Obersten Muslimrat, der höchsten islamischen Behörde im britischen Mandat, herausgegeben wurde, konstatiert: „Daß hier der salomonische Tempel gestanden hat, steht außer Frage.“ Aus muslimischer Sicht muß dies nicht unbedingt ein Widerspruch sein. Denn Salomo war nach islamischer Lehre genauso Muslim wie sein Vater David, Mose und Jesus. Christen und Juden werfen Ekrima Sabri vor, er lüge, wenn er die Existenz eines jüdischen Tempels auf dem Tempelberg bestreitet. Aber genau dasselbe wirft der Islam Juden und Christen vor, nämlich daß sie das ursprüngliche Wort Gottes verfälscht haben.

Was im religiösen Bereich als Problem begriffen wird, ist in der Politik eine Tugend. Alle israelisch-arabischen Abkommen, ganz besonders aber diejenigen, die mit dem Namen der norwegischen Hauptstadt Oslo verbunden sind, strotzen nur so von Formulierungen, die sich jeder zurechtlegen kann, wie es seiner Fasson entspricht.

Eine „Berliner Mauer“ will kaum jemand durch Jerusalem ziehen, das Muslime als islamischen Waqf, Juden als ewige und unteilbare Hauptstadt des Staates Israel und die Weltgemeinschaft als internationalisierte Zone sehen wollen. Allen gegenteiligen Behauptungen zum Trotz ist Jerusalem aber nach wie vor eine geteilte Stadt. Jeder, der in Jerusalem lebt, weiß das, erlebt und spürt es, wenn er durch die Straßen der umkämpften Stadt geht. Daß mehr als 200.000 jüdische Jerusalemer jenseits der „grünen Linie“, auf einem Gebiet leben, das vor 1967 zu Jordanien gehörte, ändert an dieser Tatsache nichts. Die meisten wohnen in rein jüdischen Stadtteilen.

Die etwa 2.000 Juden, die in vorwiegend arabischen Stadtteilen eine Bleibe gefunden haben, können der Tatsache, daß sie „auf der anderen Seite“ wohnen, im täglichen Leben nicht entfliehen. Als im Sommer 2000, vor Ausbruch der Al-Aqsa-Intifada und dem Zusammenbruch aller Verhandlungen, noch über die Zukunft der Stadt diskutiert wurde, war die Teilung eigentlich schon perfekt. Einziger Streitpunkt war die Altstadt mit einer Fläche von einem Quadratkilometer – ein Quadratkilometer von 126 Quadratkilometern Stadtgebiet Jerusalem.

Wenn Jerusalems Altbürgermeister Teddy Kollek meint, man könne keine Ruhe bekommen, solange die Palästinenser Jerusalems nicht ihren Teil der Stadt selbst verwalten, fordert er damit lediglich, einer seit langem bestehenden Situation politisch Rechnung zu tragen. „36 Jahre nach der Befreiung Jerusalems“, kommentiert der Nachrichtensprecher des ersten israelischen Fernsehens den Jerusalemtag am 29. Mai 2003, „ist die Stadt noch immer geteilt“ – und das, obwohl diese Stadt nach Aussage des Psalmisten doch „fest in sich zusammengefügt“ ist (Psalm 122,3). Sichtbare Barrieren sind gar nicht nötig.

Der Apostel Paulus hat in Jerusalem zu Füßen des berühmten Gamaliel studiert. Vielleicht ist er sogar dort aufgewachsen. Schon zu seiner Zeit konnte die Stadt auf eine lange Geschichte der Streitigkeiten zurückblicken. Schon damals waren auf den Straßen Jerusalems „Parther und Meder und Elamiter und die wohnen in Mesopotamien und Judäa, Kappadozien, Pontus und der Provinz Asien, Phrygien und Pamphylien, Ägypten und der Gegend von Kyrene in Libyen und Einwanderer aus Rom, Juden und Judengenossen, Kreter und Araber“ zu sehen (Apostelgeschichte 2,9f). Das Pfingstwunder – und damit die Ausnahme – war, daß jeder die Apostel in seiner eigenen Muttersprache predigen hörte.

Paulus war sich darüber im klaren, daß Gerechtigkeit kein objektiver Begriff ist, wie heute vielfach suggeriert wird. Gerechtigkeit ist subjektiv. Jede Religion, jede Kultur hat ihr eigenes Rechtssystem. Recht hat in dieser Welt, wer sich durchsetzen kann. Auf was es, nach Aussagen des Apostels, letztendlich ankommt, ist die „Gerechtigkeit Gottes“, die Gerechtigkeit, die von Gott kommt, die Gott verleiht und die vor Gott gilt. Das Problem der Menschheit ist, daß sie Gottes Gerechtigkeit mit ihrer eigenen Gerechtigkeit, ihrem eigenen Maßstab, vertauscht hat. (Vergleiche dazu z.B. Römer 10,1ff.)

In unserer heutigen Zeit ist (zumindest theoretisch) die Stimmenmehrheit des Rechtes Probe. Damit ist aber klar, daß der jüdische Staat im Streit um Jerusalem langfristig gegen die Vielzahl der in der UNO vertretenen islamischen Staaten keine Chance hat. Die „Jerusalem Post“ sprach zum Jerusalemtag vom „schleichenden Kontrollverlust des jüdischen Staates“, der letztlich zu einer Internationalisierung Jerusalems führen werde. Um die Araber zufriedenzustellen, stelle die Welt die jüdische Herrschaft über die Stadt in Frage.

Im hebräischen Namen der Stadt „Yerushalayim“ steckt das Wort „Shalom“, Friede. Aber auch Friede ist nicht gleich Friede. Die friedliche Koexistenz der Toten auf einem Friedhof ist etwas anderes als das tägliche Ringen grundverschiedener Charaktere um ein ehrliches Miteinander. Die Vision israelischer Politiker von einem neuen Nahen Osten ist kaum vereinbar mit dem vielbeschworenen „ruhigen Leben“, das Juden und Christen jahrhundertelang als „dhimmi“ (Schutzbefohlene) in islamischen Ländern geführt haben.

Wenn der neue palästinensische Premierminister Mahmoud Abbas (Abu Mazen) mit extremistischen Muslimen eine „Hudna“ aushandeln will, klingt das in westlichen Ohren ausreichend. Immerhin hat Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg nie mehr als einen „Waffenstillstand“ (was „Hudna“ übersetzt bedeutet) mit seinen ehemaligen Feinden erreicht. Israel aber genügt eine „Hudna“ nicht, weil es weiß, daß Muslime, die heute einen gewaltsamen Jihad gegen Juden und Kreuzfahrer führen, den Kampf nach ihrer Überzeugung wieder aufnehmen müssen, sobald sich eine Chance zeigt, Jerusalem von jüdischer Herrschaft befreien zu können.

„Salaam“ ist nach islamischer Lehre nur zwischen Muslimen, „Shalom“ nach jüdischer Tradition nur unter der Herrschaft eines jüdischen Königs Messias und wahrer Friede im christlichen Sinne nur im gemeinsamen Glauben an den auferstandenen Jesus Christus möglich. Die Augen vor der Realität zu verschließen oder den Kopf in den Sand der eigenen Träume zu stecken hilft nicht, diese unvereinbaren Gegensätze zu überbrücken. Am Ende einer Utopie steht nur zu oft ein grauenvolles Erwachen.

„Sie werden Frieden sehen“, „Yir’u Shalom“, ist die einleuchtendste Übersetzung des Namens der Stadt Jerusalem. Diese Verheißung wird aber erst wahr werden, wenn ein Maßstab für alle gelten wird. Und der wird wahrscheinlich wirklich erst dann anerkannt werden, wenn der Friedefürst kommen wird, der die Vollmacht hat, allen Völkern Frieden zu gebieten (Sacharja 9,10).

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