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Intifada der Einzelgänger

Seit dem Gazakrieg im Sommer kommt Israel nicht zur Ruhe. Trotz eines Waffenstillstands brodelt es noch immer im Heiligen Land. Allerdings scheint sich der Schwerpunkt des Konflikts verlagert zu haben: Weg vom Hamas-regierten Gazastreifen, hin zu den palästinensischen Arabern Ostjerusalems. Weg von den palästinensischen Autonomiegebieten, hin zu den Arabern, die freien Zugang zum jüdischen Staat haben.
Nach den jüngsten Terroranschlägen hat die Jerusalemer Stadtverwaltung zum Schutz der Passanten Betonklötze an Haltestellen der Straßenbahn aufstellen lassen.
Bereits während des Feldzugs „Zuk Eitan“ (Starker Fels), wie die Auseinandersetzung im Juli und August 2014 um den Gazastreifen vom israelischen Militär genannt wird, kam es in Jerusalem zu Terroranschlägen. So stürzte am 4. August der Palästinenser Naif Dschabis aus Dschabel Mukaber im Ostteil Jerusalems mit seinem Bagger einen Linienbus im Westjerusalemer Stadtteil Schmuel HaNavi um. Dabei wurde Rabbi Avraham Walles, ein 29-jähriger Vater von fünf Kindern, getötet. Fünf weitere Menschen wurden verletzt. Wenige Stunden später verletzte ein Motorradfahrer durch Pistolenschüsse mehrere Anhalter, die auf dem Skopus-Berg auf eine Mitfahrgelegenheit warteten. Sechs Wochen später stürzte in Petach Tikva der 26-jährige Nathanael Arami bei Bauarbeiten im 11. Stock ab. Erst Wochen später wurde bekannt, dass arabische Kollegen Aramis die mehrfache Sicherung durch Seile zerschnitten hatten. Ab Mitte Oktober kamen verstärkt Autos, Steine, Schraubenzieher und Eisenstangen, aber auch Pistolen, Messer und Äxte zum Einsatz, um Israelis zu terrorisieren. Tiefpunkte dieser Welle der Gewalt waren bislang der Anschlag auf Rabbi Jehuda Glick am 29. Oktober, den Glick schwer verletzt überlebte, sowie das Massaker am 18. November in der Synagoge „Kehilat Ja‘akov“ im orthodoxen Jerusalemer Stadtteil Har Nof. Vier Rabbiner wurden dort während des Gebets mit Messern und Äxten regelrecht geschlachtet. Ein Polizist, der 30-jährige Druse Sidan Nahad Saif aus Galiläa, wurde zudem ermordet, bevor die Angreifer außer Gefecht gesetzt werden konnten. Es waren Ghassan und Udai Abu Dschamal, zwei Cousins, ebenfalls aus Dschabel Mukaber. Allen Vorfällen dieser Terrorwelle ist gemein, dass sie von Arabern aus Ostjerusalem, die einen israelischen Personalausweis besitzen und sich somit in ganz Israel frei bewegen können, durchgeführt wurden. Hinzu kommt, dass alle Täter – soweit bislang bekannt – Einzelgänger waren. Das heißt, sie hatten zwar teilweise Beziehungen oder familiäre Verbindungen zu bekannten Terrorgruppen, aber keiner dieser Anschläge war nachweislich von langer Hand vorbereitet. Deshalb sind sie nur schwer, wenn überhaupt, nachrichtendienstlich fassbar. Und schließlich wurden alle diese Anschläge mit einfachsten Mitteln durchgeführt, mit Werkzeugen und Verkehrsmitteln, die von Sicherheitskräften vor einem tatsächlichen terroristischen Einsatz kaum als terroristische Waffe erkennbar sind. Aufgrund dieser Sachlage tauchte in der israelischen Öffentlichkeit in letzter Zeit immer wieder die Bezeichnung „Intifada der Einzelgänger“ auf, eine Begrifflichkeit, die eigentlich einen Widerspruch in sich selbst darstellt. Eine „Intifada“ ist per Definition ein Volksaufstand, durch den die Palästinenser die israelische Besatzung abschütteln wollen. Der ersten Intifada Ende der 1980er-Jahre und der zweiten Intifada, die Ende 2000 begann, ist zudem gemein, dass sie von der politischen Führung der Palästinenser gezielt vorbereitet und gesteuert wurden. Das lässt sich im Rückblick eindeutig nachweisen. Insofern ist eine Reihe von Einzelaktionen nur schwer als „Intifada“ zu bezeichnen.

Ein spontaner Volksaufstand?

Parallel, aber ohne augenscheinlichen Zusammenhang, kam es seit September immer wieder zu Zusammenstößen zwischen palästinensischen Jugendlichen und israelischen Sicherheitskräften in Jerusalem. Besonderer Brennpunkt war der Tempelberg in Jerusalem, mit der Al-Aksa-Moschee und dem Felsendom – von Muslimen „Haram asch-Scharif“, „ehrwürdiges Heiligtum“, genannt. „Jerusalem brennt“ titelte die Tageszeitung „Ha‘aretz“ Mitte September und beklagte, dass die Aufstände in Jerusalem und die Gewalt gegen Juden von den Medien kleingeredet und von der Polizei ignoriert würden. Mitte Oktober besuchten prominente Vertreter der israelisch-arabischen Gesellschaft, darunter die Knessetabgeordneten Dschamal Sahalka und Hanin Suabi, sowie Scheich Kamal Chatib, Vizechef der Islamischen Bewegung im Norden Israels, den Tempelberg. Sie beobachteten, wie sich arabische Jugendliche mit der israelischen Polizei an heiliger Stätte Straßenschlachten lieferten. Am 17. Oktober meldete sich dann der palästinensische Präsident Mahmud Abbas zu Wort und verlautbarte, „Siedler“ hätten „kein Recht, die Al-Aksa-Moschee zu entweihen“. Was war geschehen? Was hatte die Palästinenser so aufgebracht? Selbst die linksgerichtete „Ha‘aretz“, die sich im Blick auf palästinensische Interessen eigentlich sehr sensibel zeigt, beobachtete erstaunt, dass sich eigentlich nichts geändert hätte. Seit 2004 sei der Tempelberg täglich für einige Stunden für jüdische und nicht-muslimische Touristen geöffnet.

Die Antwort eines Beobachters palästinensischer Medien

Itamar Marcus beobachtet seit Jahren mit seiner Organisation „Palestinian Media Watch“ (PMW) die Medien der Palästinenser. Er betrachtet Zeitungen, Radio und Fernsehen in der Palästinensischen Autonomie, aber auch Twitter oder Facebook, als „Fenster in die palästinensische Gesellschaft“. Und er meint, eine schlüssige Antwort für die aktuellen Entwicklungen vorlegen zu können. Aus Marcus‘ Sicht begann alles mit der Bildung der palästinensischen Einheitsregierung am 2. Juni 2014. Entscheidender Bestandteil dieser innerpalästinensischen Vereinbarung waren Wahlen innerhalb von sechs Monaten. Die letzte Umfrage in der palästinensischen Gesellschaft, veröffentlicht im offiziellen Organ der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) „Al-Chajat al-Dschadida“, ergab, dass bei Präsidentschaftswahlen der Fatah-Kandidat über 35 Prozent erzielt hätte, während die Hamas mit nicht einmal 12 Prozent zurück lag. „Hamas brauchte einen Konflikt“, so Marcus, um bei nationalen Wahlen eine Chance zu haben. Tatsache ist, dass die Entführungen der drei jüdischen Teenager im Gusch Etzion, die zum Krieg „Zuk Eitan“ geführt hatten, unmittelbar nach einem Aufruf des Hamas-Politbürochefs Chaled Masch‘al erfolgt waren, Israelis zu entführen. Auch rühmten sich israelische Sicherheitskräfte just in dieser Zeit, eine ganze Reihe von Entführungen verhindert zu haben. Umfrageergebnisse im Juli und August zeigen klar, wie die Hamas der Fatah den Rang bei der palästinensischen Bevölkerung ablief, bis sich nach dem Gazakrieg im August 94 Prozent der palästinensischen Bevölkerung zufrieden äußerten im Blick auf die militärischen Erfolge der Hamas gegenüber Israel. 32 Prozent der Palästinenser hätten nach dem Krieg Mahmud Abbas ihre Stimme gegeben, 61 Prozent dem Führer der Hamas im Gazastreifen, Ismail Hanije. Marcus kommt zu dem Schluss: „Israel hat seine militärischen Ziele erreicht – aber die Hamas hat die Propagandaschlacht gewonnen.“ Um wieder mehr Rückhalt in der palästinensischen Bevölkerung zu bekommen, soll Abbas im Laufe des Sommers auf die Linie der Hamas eingeschwenkt sein. „Gemeinsam mit der Hamas bekämpfen wir Israel“, verkündete die offizielle Fatah-Facebookseite, und: „Ein Gott, ein Feind, ein Ziel – vereinigt Hamas, Fatah und den Islamischen Dschihad!“ Massiv verherrlichten Fatah-Organe im Juli Selbstmordattentäterinnen. Alte Blutlegenden wurden bemüht: Der Judengott fordere das Blut „unserer Kinder“ für die „Passah-Matzen“. Bis der palästinensische Präsident dann selbst ab dem 22. Juli massiv zur Gewalt aufrief – mit Berufung auf den Koran. Unmittelbar vor der Anschlagsserie in Jerusalem in der zweiten Oktoberhälfte sendete das offizielle palästinensische Fernsehen Dutzende Male eine Rede von Mahmud Abbas, in der der palästinensische Präsident dazu aufrief, „die Siedler unter allen Umständen“ daran zu hindern, „den Haram asch-Scharif zu betreten“ und „zu verunreinigen“. Marcus beobachtet die Verherrlichung der „Märtyrer“ – wie Terroristen, die ihren Anschlag nicht überlebt haben, genannt werden –, die man „auf dem Weg zu ihrer Hochzeit“ begleiten wolle, aber auch alte antisemitische Muster, die dem „Stürmer“ der deutschen Nazis entnommen sein könnten. Durch Wortspiele, bei denen im Arabischen von „da’es“ – „überfahren“ – die Rede ist, werden aktuelle Anschläge, bei denen Terroristen mit Autos in Straßenbahnfahrer rasten, verherrlicht und mit „Da’esch“, dem Islamischen Staat in Syrien und dem Irak, assoziiert. In einer Umfrage vom 28. Oktober würde Abbas wieder 35,8 Prozent der Wählerstimmen erhalten, Hamas-Premier Hanije nur noch 28,3 Prozent. „Abbas hat sein Ziel erreicht“, ist Marcus überzeugt und geht davon aus, dass es in nächster Zeit wieder ruhiger werden wird. Der jüdische Profi-Beobachter palästinensischer Medien widerspricht mit seiner Hypothese nicht nur dem Inlandsgeheimdienstchef seines eigenen Staates, Joram Cohen, der vor dem Sicherheitsausschuss der Knesset gesagt hat, Mahmud Abbas unterstütze keinen Terror. Itamar Marcus stellt auch alle gängigen Klischees der Europäer und Amerikaner auf den Kopf. Nicht die Führung der Palästinenser oder die Extremisten und Islamisten in ihren Reihen sind es, die Krieg gegen den jüdischen Staat wünschen – während die Mehrheit der einfachen Menschen nur Frieden will. Sondern „das Volk“ bewundert „die Widerstandskämpfer“ – und palästinensische Politiker, die auf Gespräche und Verständigung mit „den Zionisten“ oder „den Juden“ setzen, haben keine Chance, populär zu sein. Wetteifern Hamas und Fatah mit Kriegstreiberei und Judenhass wirklich nur um Popularität, oder haben sie ihr eigenes Volk dadurch zutiefst vergiftet? Die israelische Besatzung und das Patt in den politischen Verhandlungen sind jedenfalls nicht der einzige Grund für den Terror, der Israelis und Palästinenser immer wieder daran hindert, den Aufbau einer gemeinsamen Zukunft in Angriff zu nehmen.

Wie Israel auf die „Intifada der Einzelgänger“ reagiert

Mit bewährten Mitteln – einem Mauerbau, geheimdienstlichen Ermittlungen, einer Kooperation mit den Sicherheitskräften der PA oder dem Einsatz des Militärs – kann Israel der „Intifada der Einzelgänger“ nicht Herr werden. Weder die Motivation, noch die eingesetzten Mittel dieser jüngsten Terrorwelle sind neu, nur die Fronten scheinen sich verlagert zu haben. Politiker und Polizei fordern die Bevölkerung zu erhöhter Aufmerksamkeit auf und erwägen eine Lockerung der Waffengesetze für Zivilisten. Seit dem Anschlag auf die Synagoge in Har Nof melden sich auffallend viele Ultraorthodoxe, um eine Ausbildung an der Waffe zu erhalten. Traditionell lehnen die so genannten „Haredim“ jeden Militärdienst ab. Deshalb ist es seit Staatsgründung immer wieder zu scharfen Auseinandersetzungen innerhalb der israelischen Gesellschaft gekommen. Jetzt haben maßgebliche Rabbiner sogar erlaubt, am Schabbat eine Waffe zu tragen, weil das Gebot, Leben zu retten, wichtiger sei als die Schabbatruhe. Auf rabbinische Anordnung soll künftig bei jedem Synagogengottesdienst mindestens ein Bewaffneter zugegen sein. Die umstrittene Maßnahme, das Wohnhaus der Familie von Attentätern zu zerstören, wird neu belebt und soll Nachahmer im Blick auf das potentielle Leid für ihre Familien abschrecken – ungeachtet der Prozesswelle, die auf nationaler wie internationaler Ebene in dieser Angelegenheit zu erwarten ist. Da die Verursacher der jüngsten Terrorwelle samt und sonders die sozialen Rechte eines israelischen Staatsbürgers genossen haben, sollen künftig die Daueraufenthaltserlaubnis, die Krankenversicherung und soziale Hilfen für palästinensische Terroristen und ihre Angehörigen aberkannt werden. Auch wurden die Leichen der Terroristen länger als üblich von Israel nicht an ihre Familien ausgeliefert, um glorifizierende Beerdigungen unmittelbar nach einem Attentat zu erschweren. Unüberhörbar ist bei allen Überlegungen die Hilflosigkeit im Blick auf die Einzelgängerterroristen und angesichts der Tatsache, dass ganz offensichtlich auch in Israel und den palästinensischen Gebieten die radikale Ideologie des Islamischen Staates Herzen und Gedanken junger Muslime durchdringt.

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