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Holocaustfilm aus ungewöhnlicher Perspektive

"Von 70 Millionen Deutschen sind 455 als Judenretter anerkannt." Mit diesem Satz schließt der Film "Unter Bauern", der am letzten Septemberabend 2009 in der Jerusalemer Cinematheque uraufgeführt wurde, bevor er im Oktober weltweit in die Kinos geht. Die israelische Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem hat 5.700 Filme über die Judenvernichtung der deutschen Nazis katalogisiert. Was ist so besonders an diesem jüngsten Holocaust-Film, der eine deutsch-holländisch-israelische Co-Produktion ist und dessen Hauptrollen von Veronica Ferres, Armin Rohde und Martin Horn besetzt sind?

„Unter Bauern“ erzählt die Geschichte des westfälisch-jüdischen Pferdehändlers Siegmund „Menne“ Spiegel, dem es gelingt, mit seiner Frau Marga und ihrer Tochter Karin 1943 der Deportation ins Konzentrationslager zu entkommen. Sein alter Kriegskamerad Heinrich Aschoff – seit 1930 stolzes NSDAP-Mitglied – versteckt Marga und Karin unter falschem Namen auf seinem Hof. Menne selbst wird von Bauer Pentrop versteckt. Der allseits bekannte Pferdehändler darf sein Versteck nicht verlassen und wird dort fast wahnsinnig. Der rote Faden der Story ist aber die Freundschaft zwischen der jungen Anni Aschoff, der Tochter des Hauses, und Marga. Als Marga Spiegel von der Wirtin im Ort erkannt wird, erfährt Anni die Wahrheit und muss sich entscheiden zwischen Linientreue und Hochverrat.

Grundlage für das Drehbuch bilden die Memoiren von Marga Spiegel, die unter dem Titel „Retter in der Nacht“ erstmals 1969 erschienen. Marga Spiegel wurde 1912 in Oberaula geboren und lebt heute in Münster. Der deutsch-jüdische Regisseur, Schriftsteller und Schauspieler Imo Moszkowicz, der 1925 in Ahlen, dem Heimatort der Spiegels, geboren wurde und ebenfalls ein Überlebender des Holocaust ist, hatte die Idee, diesen entscheidenden Abschnitt im Leben der Familie Spiegel zu verfilmen.

Deutsche, die sich gegen Gesetze für Juden einsetzen

„Das ist erstmals ein Holocaust-Film, der seine Geschichte aus der Perspektive von Deutschen erzählt, die ihr Leben riskiert haben, um Juden zu retten“, betont der holländisch-jüdische Regisseur Ludi Boeken, dessen deutsche Großmutter vor dem Krieg einen holländischen Juden geheiratet hatte, zu ihrem Mann nach Amsterdam gezogen und zum Judentum konvertiert war. „Es sind Deutsche – nicht Holländer, Belgier oder Franzosen -, die sich gegen die Gesetze des von ihnen gewählten Regimes für ihre jüdischen Mitmenschen einsetzen.“ Der Sohn der Aschoffs kämpfte und fiel als Soldat an der Ostfront. Tochter Anni war aktiv und begeistert beim Bund Deutscher Mädel (BDM).

Boeken versteht es gut, diese außergewöhnliche Geschichte erzählen, wobei – das geben alle zu – manches um der Spannung willen dramatisiert wurde. Dabei zeigt er Sinn für das Absurde im Alltäglichen und auch der etwas raue westfälische Humor kommt nicht zu kurz. Gedreht wurde der Film im Spätsommer 2008 unter anderem in den westfälischen Orten Dülmen, Wadersloh und Lippstadt.

Der Holländer, der selbst in Tel Aviv studiert hat und fließend Hebräisch spricht, ist überzeugt, dass „viele Israelis erstaunt sein werden“, weil dieser Film, der eine wahre Geschichte ist, ihren Stereotypen über die Deutschen widerspricht. „Das waren normale Leute, keine Widerstandskämpfer, keine anti-nationalsozialistischen Politaktivisten, sondern einfache Bauern, einfach Menschen“, betont Boeken und fährt fort: „Wir wurden immer wieder gefragt: Warum erzählt ihr diese Geschichte über die guten Deutschen, wenn es so viele schlechte Deutsche gab, die so viel Schlimmes getan haben, und wenn wir noch nicht einmal alle Gräueltaten erzählt haben? – Weil diese Situation auch in anderen Kulturen vorkommen kann und weil sich auch dort eine Situation ergeben kann, in der man einfach Nein sagen muss. Ich möchte sagen: Das ist möglich! Diese Ausnahme beweist, dass so ein Widerstand im Kleinen möglich war.“

Marga Spiegel mit Veronica Ferres in Yad Vashem

Einen Tag nach der Filmpremiere ließ sich die heute 97-jährige Marga Spiegel von der Schauspielerin Veronica Ferres durch die Jerusalemer Holocaustgedenkstätte Yad Vashem führen. Ferres verkörpert Spiegel auf der Kinoleinwand und gleicht ihr erstaunlich, wenngleich sie mehr als einen Kopf größer ist. Marga und Menne Spiegel haben 34 Verwandte und viele Freunde in der Schoah verloren. Außer ihnen hat von ihrer Großfamilie niemand überlebt. Menne Spiegel ist Anfang der 1980er Jahre gestorben. Die Tochter Karin starb vor einigen Jahren an Krebs.

Im Garten der „Gerechten unter den Völkern“, wo die Namen derjenigen Nichtjuden, die Juden während des Holocaust unter Einsatz des eigenen Lebens gerettet haben, in Stein gemeißelt sind, will die Film-Crew, die für die Premiere nach Jerusalem gereist ist, der Helden des Films gedenken. Die Bauern Heinrich Aschoff, Hubert Pentrop, Bernhard Südfeld, Heinrich Silkenböhmer und Bernhard Sickmann wurden von Yad Vashem als „Gerechte unter den Nationen“ geehrt. Anni Richter-Aschoff, die ebenso zu der Gesellschaft gehört, wie das Nachwuchstalent Lia Hoensbroech, die sie im Film verkörpert, zeigt auf den Namen ihres Vaters auf dem weißen Jerusalemstein.

Es war der Einsatz von Marga Spiegel, der es verhindert hat, dass die Namen der westfälischen Bauern in Vergessenheit gerieten. „Der erste Brief, den wir von Ihnen, Frau Spiegel, haben, stammt von 1962, noch lange, bevor die Kommission für die Gerechten unter den Völkern gegründet wurde“, erklärt Irena Steinfeldt, Leiterin der Abteilung „Gerechte unter den Völkern“ in Yad Vashem: „Ich glaube, Sie gehören zu den Gründern dieses Projekts, die Retter zu ehren.“ „Das kommt sonst nirgends vor, dass die Opfer im Land der Täter gute Menschen suchen, um sie zu ehren“, meint einer der Teilnehmer der kleinen Gedenkfeier zu Frau Spiegel: „Man hätte doch gemeint, dass das jüdische Volk sich nach einer solchen Tragödie in seine Trauer einschließen würde, anstatt sich darum zu sorgen, dass man noch solche Leute ehrt.“

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