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Hitlers Pläne durchkreuzt

"Viel Steine gab's und wenig Brot." Was der schwäbische Dichter Ludwig Uhland einst seinen "Kaiser Rotbart lobesam" feststellen ließ, mussten auch die ersten jüdischen Siedler des Kibbutzes Lavi erfahren, als ihnen der steinige Hügel in Untergaliläa 1949 zugeteilt wurde. Bis in die 50er Jahre hinein "war Steineräumen die Hauptbeschäftigung", erinnert sich Henry Stern. Und Gerti Urman weiß aus der Gründerzeit, dass es "nie genug Essen" gab, das Leben von "Hitze und Krankheiten" bestimmt war. Wer heute durch das paradiesisch-subtropische Grün der Anlagen von Lavi geht, kann sich das kaum mehr vorstellen.

Henry Stern kann den Stuttgarter Zungenschlag auch nach mehr als sechs Jahrzehnten nicht verbergen, wenn er von seinem Elternhaus in der Atzenbergstraße erzählt und vom Lehrer Pfitzmeier an der Friedrich-Eugen-Oberrealschule schwärmt. Bis ins 17. Jahrhundert kann Stern die Existenz seiner jüdischen Vorfahren in Württemberg zurückverfolgen, in Schopfloch im Schwarzwald und in Oberndorf am Neckar.

Aber die bürgerliche Kindheit im Vorkriegsstuttgart blieb nicht ungetrübt. In SA-Uniform führte ihn ein Lehrer Ende der 30er Jahre der Schulklasse als „Beispiel für die nichtarische Rasse“ vor. In weiser Voraussicht schicken seine Eltern den 14-Jährigen im Sommer 1939 nach England, mit dem so genannten „Kindertransport“, zusammen mit weiteren 10.000 deutsch-jüdischen Kindern. Im Rückblick meint Henry Stern: „Unsere Eltern haben uns damals das Leben zum zweiten Mal geschenkt.

Nach Krieg überlebende Verwandte gefunden

Nach Kriegsende kehrt Henry Stern als Mitglied der jüdischen Brigade der britischen Armee kurz nach Deutschland zurück. Er darf sich für ein paar Stunden von seiner Einheit absetzen und findet tatsächlich seinen Onkel Jakob Stern, der sich in Fellbach versteckt halten konnte. In Frankreich findet er auch seinen jüngeren Bruder, der „die ganze Hölle durchlebt hat“. Seine Eltern wurden im März 1942 irgendwo in einem Birkenwald außerhalb von Riga mit 30.000 weiteren Opfern des nationalsozialistischen Völkermordes namenlos verscharrt.

Der Kibbutz Lavi liegt wenige Kilometer westlich vom See Genezareth, unweit der Golanikreuzung an der Straße zwischen Tiberias und Nazareth. Vor fast einem Jahrtausend wurden die Kreuzfahrer hier an den „Hörnern von Hittim“ vernichtend von der Armee des Sultans Saladin geschlagen. Unter hohen Kiefern liegen heute ausgedehnte Parkanlagen, vor kleinen Häuschen Gärten, in denen alles üppig grünt und blüht. 60 Jahre nach Kriegsende und 3.000 Kilometer von den Vernichtungslagern entfernt, erscheinen die Erinnerungen Henry Sterns unendlich fern. Doch sie gehören zu den Grundlagen der israelischen Gemeinschaftssiedlung, die von 50 Mitgliedern der orthodox-jüdischen Pionierbewegung Bachad-Bnei Akiva gegründet wurde – die meisten waren durch den Kindertransport gerettet worden.

Im Gemeinschaftsspeisesaal des Kibbutz stellt mir mein Gastgeber Gerti Urman vor. Drei Wochen nach ihrem elften Geburtstag war sie von Wien nach England gekommen. „Meine Kindheit wurde damals jäh abgebrochen“, erinnert sie sich. „Ich komme aus einer sehr warmen Familie. Seit ich von Wien weg war, wurde ich von niemandem mehr geküsst oder umarmt.“ Auch sie hat für eine Jüdin, die den Zweiten Weltkrieg überlebt hat, eine selten positive Geschichte. 1946 konnte sie ihre Mutter wieder finden. Aber der Vater und drei Brüder haben nicht überlebt.

Gerti ist das Urbild einer jüdischen Großmutter, strahlt unendlich viel Liebe und Fürsorge aus. Seit sie mit 23 Jahren geheiratet hat, wurde sie mit drei Töchtern und zwölf Enkeln gesegnet. Ihre Leidenschaft scheint aber zu sein, Besuchern ihre Heimat, den Kibbutz Lavi, zu erklären. Liebevoll streicht sie über die blühenden Olivenzweige und meint: „Ich habe mich nie nach Urlaub gesehnt. Hier habe ich alles.“

Lavi ist einer von 16 religiösen Kibbutzim. Die meisten der ungefähr 260 Gemeinschaftssiedlungen in Israel sind säkular. In ihnen gilt das Ideal, dass jeder zur Gemeinschaft beisteuert, was er leisten kann und dafür bekommt, was er zum Leben braucht. 60 Prozent der 1.000 Hektar Land des Kibbutzes Lavi sind landwirtschaftliche Nutzfläche, auf der die „Kibbutznikim“ Getreide, Sonnenblumen, Wassermelonen, Grapefruits, Bananen, Baumwolle, Zitronen, Birnen, Oliven, Weintrauben und Avocado anbauen. Mit exotischen Früchten wie Fejoia, Mango, Litchi und Maccadamia wird noch experimentiert. Außerdem gehören 600 Kühe, 80.000 Hühner und 18.000 Puten zum Großbauernhof Lavi.

Synagogenmöbel für USA und Europa

Seit 1960 trägt auch eine Schreinerei, in der Synagogenmöbel hergestellt werden, zum Einkommen bei. Bestellungen vor allem aus den Vereinigten Staaten, aber auch aus Europa haben das Unternehmen zur größten Synagogenmöbelfabrik weltweit werden lassen. Ungefähr 50 Kibbutz-Mitglieder arbeiten außerhalb, als Lehrer, Akademiker oder Forscher. Sie schicken ihr Gehalt an den Kibbutz und bekommen dafür, was sie zum Leben brauchen.

Während die Gründer einmal ausschließlich aus England gekommen waren, stammen heute die 650 Kibbutz-Mitglieder aus 24 Ländern. Gemeinsame Basis der Kibbutzgemeinschaft in Lavi sind Bibel und jüdische Tradition. Der Sabbat wird natürlich ebenso streng eingehalten wie die jüdischen Reinheitsgebote für das Essen.

Henry Stern zeigt auf die Fenster der Kinderhäuser, die kindgerecht direkt über der Erdoberfläche liegen. Dort werden die Kinder ab einem Alter von drei Monaten während der Arbeitszeit betreut, damit die Eltern frei sind. „Das wichtigste Ziel der Kinderhäuser ist die Erziehung zur Bibel, Liebe zu Gott, Gemeinschaft und Aufbau des Landes Israel“, betont Gerti Urman.

Tradition der Gastfreundschaft

Der moderne, israelische Kibbutz Lavi baut auf eine alte Tradition auf. Das sollen nicht nur archäologische Reste und eine alte hebräische Steininschrift zeigen. Schon der Talmud erwähnt die „Karawanserei Lavi“, wo sich Seidenstraße und Gewürzstraße kreuzen, an der Via Maris, die in der Antike Ägypten mit dem Zweistromland verband. „Auf den Pundak Lavi kann man sich verlassen“, unterstreicht die jüdische Überlieferung die Verbindung von Gastfreundschaft und jüdischem Glauben.

Stolz präsentiert sich das 4-Sterne-Kibbutzhotel in dieser Tradition. Gerti Urman arbeitet seit 1970 im Hotel, ist für die deutsche Korrespondenz und die deutschen Gruppen zuständig. „Ich sorge dafür, dass meine Gruppen gute Zimmer bekommen“, betont sie, und dann ist es ihr ein besonderes Anliegen, die Geburtstage der Gruppenleiter nicht zu vergessen. Früher einmal hat sie den Kibbutz für die gerechteste Lebensform gehalten, die es gibt. Heute weiß sie, dass ein „Kibbutz nur so gerecht ist, wie die Menschen, die in ihm leben. Es gibt diejenigen, die den Wagen ziehen und diejenigen, die darauf sitzen.“ Deshalb engagiert sich Gerti auch noch in einem Alter, in dem andere den wohlverdienten Ruhestand genießen.

Als Henry Stern im Dezember 1949 jung verheiratet mit seiner Lily im neu gegründeten Kibbutz Lavi eintraf, beschrieb er die Zustände dort als „unglaublich primitiv“: „Ohne Elektrizität, sanitäre Anlagen, oder Häuser – nur ein Zelt, eine Kanne Wasser pro Tag und sehr einfache, grundlegende Nahrung – aber viel Arbeit! Das waren die Bedingungen der ersten Siedler in den frühen 50er Jahren.“

Heute ist das alles anders. Dass er mit vier Kindern, 18 Enkeln und acht Urenkeln in Israel lebt, ist für Henry Stern der beste Beweis dafür, dass „Hitlers Pläne durchkreuzt wurden“. Jetzt träumt er davon, im alten Getreidesilo des Kibbutz ein Museum einzurichten für den Kindertransport, denn „die alte, Deutsch sprechende Generation stirbt aus“.

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