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Henryk M. Broder schreibt: „Gerhard, stell Dir vor…“

Es ist ein Meisterstück journalistischer Kommentatorenkunst, das der bekannte Publizist Henryk M. Broder dieser Tage auf „Spiegel-Online“ veröffentlicht hat: In einem „persönlichen Brief“ geht er scharf mit Bundeskanzler Gerhard Schröder ins Gericht – bei einem Auftritt vor der Presse in Kairo hatte jener in Bezug auf die Angriffe Israels auf Terrorlager in Syrien gesagt, es sei „die Souveränität eines anderen Landes verletzt“ worden, eine solche Aktion sei „nicht akzeptabel“.

„Ich war mir sicher“, schreibt Henryk M. Broder in seinem „Brief an Schröder“, „Du würdest den Terror-Anschlag meinen, denn die Souveränität eines Landes äußert sich vor allem darin, daß die Regierung die Sicherheit der Bürger garantiert. Ist die Sicherheit dahin, durch internen oder externen Terror, kann von einer Souveränität keine Rede mehr sein. Dann herrschen afghanische oder somalische Zustände. Erst nachdem ich den Bericht von der Pressekonferenz in Kairo zum zweiten und dritten Mal gesehen hatte, wurde mir klar: Du hast nicht den Anschlag gemeint, sondern die israelische Reaktion darauf, nämlich das Bombardement mutmaßlicher Dschihad-Lager auf syrischem Territorium. (…)“

„Was Dich also umtreibt, das ist die Sorge um die verletzte Souveränität eines Landes, das Terroristen ausbildet und fördert, die sich ihrerseits um die Souveränität anderer Länder so kümmern wie Mohammed Atta um den Service an Bord der von ihm gesteuerten Maschine.(…)“

In Deutschland, schreibt Broder weiter, habe sich inzwischen die Ansicht durchgesetzt, daß die Israelis selber schuld sind, wenn sie nicht mehr Bus fahren oder in einem Café sitzen können, ohne um ihr Leben zu fürchten.

„Aber all das, lieber Gerhard, mein Kanzler, ist Deine Sache nicht. Dir geht es um die verletzte Souveränität Syriens. Denn Du machst dir Sorgen um den Frieden und die Stabilität im Nahen Osten, wie Dein Außenminister, der immer wieder vollmundig ‚in die Region‘ fährt und mit leeren Taschen zurückkommt. Ich frage mich, warum er es bisher nicht geschafft hat, seinen Freund Arafat anzurufen und ihm zu sagen: ‚Jossi, hör mit dem Schmierentheater auf, hör auf, Dich von Anschlägen zu distanzieren, die von Deinen Leuten begangen wurden. Wenn Du nicht dafür sorgst, daß Deine Leute mit dem Terror aufhören, werden wir, der Kanzler und ich, dafür sorgen, daß Du kein Geld mehr von der EU bekommst.‘ Das, lieber Gerhard, wäre eine friedensfördernde Maßnahme, und nicht das Geschwätz von einer europäischen Nahost-Initiative, die es nie geben wird. Und nun möchte ich mit Dir noch ein kleines Experiment durchführen. Bitte lehne Dich in Deinem Business-Class-Sitz zurück, schließe die Augen und stelle Dir folgendes vor:

 1. Juni 2001: Anschlag auf das Dolphinarium in Travemünde – 21 Tote
 9. August 2001: Anschlag auf die Sbarro Pizzeria in Berlin – 15 Tote
 1. Dezember 2001: Anschlag in der Ben Jehuda Fußgängerzone in Berlin-Wilmersdorf – 11 Tote
 2. Dezember 2001: Anschlag auf einen Bus auf dem Weg von Berlin nach Schwerin – 15 Tote
 2. März 2002: Anschlag im Holländischen Viertel in Potsdam – 11 Tote
 9. März 2002: Anschlag auf das Café „Moment“ in Berlin-Mitte – 11 Tote
 20. März 2002: Anschlag auf einen Bus in der Nähe von Berchtesgaden – sieben Tote
 27. März 2002: Anschlag auf ein Hotel in Bad Pyrmont während einer Familienfeier – 29 Tote
 31 März 2002: Anschlag auf ein Restaurant in Hamburg – 15 Tote
 10. April 2002: Anschlag auf einen Bus bei Oldenburg – acht Tote
 7. Mai 2002: Anschlag auf einen Billard-Saal in Paderborn – 15 Tote
 5. Juni 2002: Anschlag auf einen Bus in der Nähe von Rostock – 17 Tote
 18. Juni 2002: Anschlag auf eine belebte Straßenkreuzung in Berlin – 19 Tote
 9. Juni 2002: Weiterer Anschlag auf eine Straßenkreuzung in Berlin, sieben Tote
 4. August 2002: Anschlag auf einen Bus in Bayern – acht Tote
 21. Oktober 2002: Anschlag auf einen Bus in Niedersachsen – 14 Tote
 21. November 2002: Anschlag auf einen Bus in Berlin – elf Tote
 5. Januar. 2003: Anschlag in einer Berliner Fußgängerzone – 23 Tote
 5. März 2003: Anschlag auf einen Bus in Mecklenburg-Vorpommern – 17 Tote
 18. Mai 2003: Anschlag auf einen Bus am Rande von Berlin, sieben Tote
 11. Juni 2003: Anschlag auf einen Bus in Berlin-Mitte, 17 Tote
 19. August 2003: Anschlag auf einen Bus in Berlin, 23 Tote
 9. September 2003: Anschlag auf einen Bus in der Nähe eines Bundeswehr-Standortes, acht Tote Soldaten
 19. September 2003: Anschlag auf das Café Hillel in Berlin – sieben Tote
 4. Oktober 2003: Anschlag auf das Restaurant Maxim bei Rostock, 19 Tote

Broder schließt: „Und jetzt, lieber Gerhard, mach die Augen wieder auf und sag mir: Wenn das alles in Deutschland passiert wäre, so wie es in Israel passiert ist, wärst Du dann immer noch Kanzler einer demokratischen Republik und würdest Du Dir Gedanken machen über die verletzte Souveränität eines Nachbarlandes, das den Terroristen logistische Hilfe gibt? Ich wünsche Dir einen guten Heimflug und eine sichere Landung.“

Den Beitrag von Henryk M. Broder finden Sie in ganzer Länge unter www.spiegel.de

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