Hat Scharon die Intifada ausgelöst?

Der demonstrative Besuch des israelischen Oppositionschefs Ariel Scharon auf dem Jerusalemer Tempelberg am 28. September 2000 gilt bei vielen Menschen bis heute als der Auslöser des blutigen Aufstandes der Palästinenser gegen Israel, auch "Al-Aksa-Intifada" genannt. Die israelische Menschenrechtsorganisation "Betzelem" behauptet in einer neuen Statistik, dass 6.371 Palästinenser von israelischen Sicherheitskräften getötet worden seien.

Nach Angaben der Sprecherin der Organisation seien weder die Selbstmordattentäter noch rund 40 Palästinenser mitgerechnet worden, die von „israelischen Bürgern“ getötet wurden. Die Zahl der „von Palästinensern“ getöteten Israelis wird mit 1.083 angegeben. Gezählt wird ab dem 29. September, dem Freitag nach Scharons „Provokation“.

Tatsache ist, dass Scharons Demonstration gegen die Politik des damaligen Regierungschefs Ehud Barak mit dem damaligen palästinensischen Präsidenten Jasser Arafat, dem palästinensischen Jerusalem-Minister und mit Sicherheitschef Dschibril Radschub abgesprochen worden war. Radschub war auf dem Tempelberg anwesend und hatte versprochen, dass es ruhig bleiben werde. Deshalb hatten die israelischen Behörden kein rechtliches Mittel, Scharon per Gerichtsbeschluss wegen Störung der öffentlichen Ordnung zu stoppen. Tatsächlich blieb es ruhig. Die Intifada begann erst einen Tag später, weshalb bei Betzelem die Zählung am 29. September 2000 beginnt.

„Intifada“ von langer Hand geplant

Längst ist bekannt, dass diese „zweite Intifada“, im Gegensatz zum ersten Aufstand ab Dezember 1987, kein spontaner Gewaltausbruch war. Marwan Barghuti, Arafats Vertrauter (inzwischen wegen Mordes zu fünffacher lebenslänglicher Haftstrafe verurteilt), hat zum ersten Jahrestag im September 2001 in einem langen Interview beschrieben, wie er monatelang zuvor die schon im Juni von Arafat in Nablus angekündigte Intifada vorbereitet hätte. Scharons Provokation diente ihm nach eigenen Angaben als willkommener Anlass, den Krieg gegen Israel auszulösen und gleichzeitig den Israelis dafür die Schuld zuzuschieben.

Der „offizielle“ Beginn der Intifada wird deshalb mit Scharons umstrittener Visite auf dem Tempelberg symbolisiert. Als erstes Opfer der Intifada gilt jedoch ein israelischer Soldat, David Biri. Dieser wurde schon am 27. September 2000 von Palästinensern ermordet, einen Tag vor Scharons Demonstration.

Die Schuldfrage und die Frage, wann genau die Intifada begonnen hat, ist heute kaum mehr relevant. Tausende Tote, das Votum der palästinensischen Führung, Israel mit Gewalt zu bekämpfen, trotz des 1993 mit den Osloer Verträgen abgesprochenen Gewaltverzichts, haben im Nahen Osten eine völlig neue Lage geschaffen. Wichtiger wäre eine Diskussion über die Ergebnisse und Folgen dieses blutigen Aufstandes.

Die Palästinenser haben sich selber und der Welt bewiesen, dass Israel keineswegs unverwundbar ist und dass es mit relativ primitiven Mitteln tödlicher geschlagen werden kann als mit allen arabischen Armeen. Israel hat mit der Räumung des Gazastreifens und vier Siedlungen im Norden des Westjordanlandes den Palästinensern sogar einen gewissen „Erfolg“ beschert. Auch die Errichtung des Sperrwalls entlang der alten Waffenstillstandslinie zwischen Israel und dem damals von Jordanien besetzten Westjordanland könnte als palästinensischer „Sieg“ gewertet werden, wenn Israel nicht eigenwillig den Verlauf von Zaun und Mauer jenseits dieser Linie gezogen hätte.

Beitrag für palästinensischen Nationalstaat?

Ob die Palästinenser mit der „Al-Aksa-Intifada“ ihrem erklärten nationalen Ziel, der Errichtung eines Staates, näher gekommen sind, wird sich erst noch erweisen müssen. In jedem Fall herrscht in den palästinensischen Gebieten das Gefühl vor, dass die vielen Toten, die Zerstörung der eigenen Wirtschaft und andere Folgen des Aufstandes in keinem Verhältnis zu dem vermeintlichen Erfolg stehen.

Umgekehrt dürfte es niemanden geben, der behauptet, dass die Israelis diesen Aufstand gewollt hätten oder dass Scharon gezielt beabsichtigte, sein Land und den Nahen Osten in diesen Krieg zu stürzen. Unbeantwortet bleibt bis heute die Frage, wieso der damalige Premierminister Israels, der heutige Verteidigungsminister Ehud Barak und seine Geheimdienste offenbar nicht von den Plänen der Palästinenser wussten und vom Ausbruch der Intifada ebenso überrascht wurden, wie 1973 von dem Ausbruch den Jom-Kippur-Krieges.

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