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„Hamastan“ ist Realität

„Endlich, endlich – aber vielleicht zu spät“, kommentiert Ehud Granot vom israelischen Fernsehen, hat sich der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), Mahmud Abbas, zu einer Entscheidung aufgerafft. Der als „Abu Masen“ bekannte Veteran der palästinensischen Saga löste die palästinensische Regierung der nationalen Einheit auf und rief den Notstand aus. Damit vereinigt Abbas offiziell und legal alle Vollmachten, die er noch zu haben glaubt, in seinen Händen. Ob diese dramatische Entscheidung die Realität in den palästinensischen Autonomiegebieten verändert, wird sich erst langfristig zeigen.

Im Gazastreifen hat die radikal-islamische Hamas die Vollendung ihrer Machtergreifung verkündet. Die Entscheidung des Fatah-Chefs und Palästinenserpräsidenten erklärte sie für irrelevant, weil sie eine Kapitulation vor den Wünschen der USA sei. Seit Tagen herrscht im Gazastreifen Chaos. An zuverlässige Berichte ist schwer zu kommen. Wer telefonisch von außen erreichbar ist, hat sich aus Sorge um die persönliche Sicherheit in der eigenen Wohnung eingeschlossen. Während der Telefongespräche sind im Hintergrund die Maschinengewehrsalven zu hören. Die Stromversorgung ist ausgefallen.

Die Angst ist groß, dass die maskierten Kämpfer, die keinen Mangel an Munition und Todesmut zu haben scheinen, irgendwann den Privatbereich der Wohnungen nicht mehr achten und in die Häuser eindringen werden. Seit Wochen fahren ausländische Journalisten nicht mehr in den Gazastreifen. Einheimische Kollegen trauen sich kaum mehr auf die Straße. Zu groß ist die Gefahr, auf der Straße in eine Schießerei zu geraten, oder an einem der unzähligen, spontan errichteten Kontrollpunkte, von maskierten Bewaffneten verhört zu werden. Selbst die Flüchtlingshilfsorganisation UNRWA hat ihre Aktivitäten weitgehend eingestellt.

Mindestens 90 Menschenleben haben drei Tage Chaos allein in der zweiten Juni-Woche gefordert und ungefähr 300 Verletzte. Der Generaldirektor des PA-Gesundheitsministeriums berichtet der Weltgesundheitsorganisation WHO, die Krankenhäuser im Gazastreifen seien überfüllt. Operationen könnten nicht durchgeführt werden, weil die Mittel dazu fehlen. Blutkonserven können nicht mehr transportiert werden. Manche Ärzte und Krankenschwestern arbeiteten schon mehr als 72 Stunden am Stück, weil sie ihren Arbeitsplatz nicht verlassen können und die Schichtablösung ihren Arbeitsplatz nicht erreichen kann.

Die Hamas scheint nach 18 Monaten teilweise heftigster Kämpfe tatsächlich einen Großteil des Gazastreifens unter ihrer Kontrolle zu haben. Gebäude und Stützpunkte der PA-Streitkräfte waren zuvor mit Maschinengewehren, Raketen und Granaten beschossen worden.

Als Reaktion auf die Ermordung des 20-jährigen Omar Rantisi, eines Neffen des ehemaligen Hamas-Chefs Abdel Asis Rantisi, sprengte die Hamas eine Militärbasis der Fatah im Flüchtlingslager Chan Junis im südlichen Abschnitt des Gazastreifens mit einer 1.000-Kilogramm-Bombe. Dazu bediente sie sich eines Tunnels, der unter dem Gebäude angelegt worden war. Eine weitere große Bombe war von Fatah-Kräften entdeckt worden. Sie war unter der Straße deponiert, die Palästinenserpräsident Mahmud Abbas gewöhnlich nutzt, um nach Gaza-Stadt zu gelangen. All das deutet darauf hin, dass es sich bei dieser Auseinandersetzung nicht um einen spontanen Ausbruch von Gewalttätigkeiten handelt, sondern um sorgfältig geplante und von langer Hand vorbereitete Militäraktionen.

Seit dem frühen Nachmittag des 12. Juni fordert die „Islamische Widerstandsbewegung“, was die Abkürzung „Hamas“ übersetzt bedeutet, durch ihre Fernseh- und Radiostationen, sowie über die Lautsprecher der Moscheen die Fatahkräfte auf, ihre Stützpunkte im gesamten Gazastreifen zu räumen, sich zu ergeben und ihre Waffen auszuliefern.

Hunderte von Fatah-Kämpfern haben sich bis Mitte der Woche der Hamas ergeben und wurden auf demütigende Art und Weise abgeführt. Ein Großteil ihrer Führung hat sich nach Ägypten und ins Westjordanland abgesetzt. Laut ägyptischen Berichten haben 40 Fatah-Offiziere die Grenze von Gaza nach Ägypten durchbrochen, um sich im Sinai in Sicherheit zu bringen. Kurz darauf berichteten die mit der Hamas verbündeten Volkswiderstandskomitees, sie hätten die Grenze zu Ägypten unter ihre Kontrolle gebracht, um Waffenschmuggel für die Fatah und die Flucht von Zivilisten zu verhindern. In Gaza-Stadt hat die Fatah einige ihrer eigenen Stützpunkte gesprengt, um zu verhindern, dass sie in die Hände der Hamas fallen.

Derweil scheint der palästinensische Bürgerkrieg auch auf das Westjordanland überzuschwappen. In Ramallah wurden verschiedene Hamasvertreter von Bewaffneten entführt. Aus Nablus und von anderen Orten werden Massenverhaftungen und Schießereien gemeldet. In Dschenin eroberten Fatah-Vertreter eine Schule, ein Krankenhaus und Büros der Hamas. Mehrere hundert Fatah-Leute marschierten durch die Straßen und schossen in die Luft, nachdem sie einen Hamas-Club niedergebrannt hatten. Sekaraja Sbeidi, Kommandeur der mit der Fatah liierten Al-Aksa-Märtyrer-Brigaden, verkündete ein Verbot aller Hamas-Aktivitäten in der Stadt. In Tulkarm wurden ein Hamas-Büro beschossen und zwei Autos von Hamas-Vertretern verbrannt. In Hebron und Bethlehem bauen die PA-Sicherheitskräfte ihre Stellungen weiter aus und verstärken sie mit Sandsäcken.

Im palästinensischen Bürgerkrieg scheinen mittlerweile alle Hemmungen gefallen zu sein. Den Kämpfenden ist nichts mehr immun oder heilig. Im Rahmen wilder Schießereien werden Krankenhäuser zum Kriegsschauplatz. Teilweise wurden Verletzte noch auf dem Operationstisch erschossen. Zwei Krankenwagen des palästinensischen Gesundheitsministeriums wurden von Bewaffneten beschlagnahmt. Weil der Sonderstatus von Krankenwagen im Kriegsgebiet von den Kämpfenden nicht mehr respektiert wird, weigern sich die Fahrer und Sanitäter, in bestimmte Gegenden zu fahren.

Widersprüchliche Berichte zeigen grauenhafte Bilder. Menschen werden von Hochhäusern gestürzt. Spontan werden Hinrichtungen veranstaltet. Die PA berichtete, dass Hamas-Kämpfer einige Frauen erschossen, die sich bemüht hatten, ein verletztes Mädchen ins Krankenhaus zu bringen. An einer anderen Stelle in Gaza-Stadt eröffneten Hamas-Leute das Feuer auf eine „friedliche“ Demonstration gegen die innerpalästinensische Gewalt, die vom ägyptischen Geheimdienst organisiert und von bewaffneten Mitgliedern des Islamischen Dschihad begleitet wurde. Nicht neu ist, dass Gefangenen vor ihrer Freilassung die Knie zerschossen werden, was sicherstellt, dass sie nicht mehr an Kampfhandlungen teilnehmen können.

In Israel beobachtet man diese Entwicklungen mit großer Sorge. Man ist sich darüber im Klaren, dass mörderisches Chaos in den Palästinensergebieten niemals gut für den jüdischen Staat sein kann. Aber welche Optionen hat das Land, dem nur zu leicht von Beobachtern die Schuld für das Durcheinander in die Schuhe geschoben wird? Soll es dem Gazastreifen Strom und Wasser abstellen oder keine Lebensmittel mehr liefern? Was wären die Folgen? Wen würden sie treffen?

Die Schwarzseher und Unheilspropheten in Israel haben im Blick auf die Entwicklung im Gazastreifen Recht behalten. Zu ihnen gehört der ehemalige israelische Generalstabschef Mosche „Buggy“ Ja´alon, der aufgrund seiner Warnungen vor einem israelischen Rückzug aus dem Gazastreifen, seinen Posten unter dem damaligen Premierminister Ariel Scharon aufgeben musste. Ja´alon sieht einen Wiedereinmarsch der israelischen Armee in den Gazastreifen als unausweichlich: „Niemand wird uns diese Arbeit abnehmen.“

Auf UN- und EU-Ebene berät man über den Einsatz einer internationalen Friedenstruppe an der Grenze zwischen Ägypten und dem Gazastreifen. Israels Regierungschef Ehud Olmert und seine Außenministerin Zipi Livni haben bereits ihre Sympathien für diese Idee geäußert. Der Minister für strategische Angelegenheiten, Avigdor Lieberman, will gar eine Stationierung von NATO-Truppen im Gazastreifen sehen. Doch der Einsatz einer wie auch immer gearteten internationalen Truppe setzt die Einsicht und das Einverständnis aller beteiligten Parteien vor Ort voraus. Und die Hamas hat klar zu verstehen gegeben, dass sie der Stationierung von Ausländern nicht zustimmen und sie wie die israelischen Besatzer betrachten werde – womit das Thema vom Tisch sein dürfte. Denn dass sich eine UNO- oder gar EU-Truppe den Weg zu ihrer Friedensmission gewaltsam erkämpft, ist nur schwer vorstellbar.

Der ehemalige stellvertretende Chef des militärischen Geheimdienstes der israelischen Armee, General Ja´akov Amidror, stimmt seinem Kollegen Ja´alon zu: „Israel wird sich bereit finden müssen, wieder in den Gazastreifen einzumarschieren und dort für Jahre zu bleiben.“ Die beiden Generäle, die aus ihren politischen Neigungen kein Hehl machen, sind sich einig: Israel und die Palästinenser ernten jetzt die Früchte eines unverantwortlichen Rückzugs aus dem Gazastreifen.

Gideon Greenfeld vom Reut Institut geht davon aus, dass Israel sich in absehbarer Zeit zweierlei palästinensischen Gebilden gegenüber sehen wird: Einem „Hamastan“ im Gazastreifen und dem „Fatahland“ im Westjordanland. Neben dem Hisbollah-Staat im Norden hat Israel dann einen zweiten Terrorstaat in seiner unmittelbaren Nachbarschaft.

Ein großes Fragezeichen steht indes auch hinter der künftigen Beziehung zwischen Ägypten und den Palästinensern. Wie wird sich das Nilland gegenüber einem von der Hamas beherrschten Gazastreifen verhalten, wenn sich das Regime von Präsident Hosni Mubarak heute schon von der Muslimbruderschaft, deren palästinensischer Zweig die Hamas bildet, bedroht sieht? Der Nahost- und Terrorexperte Guy Bechor meint, dass Ägypten ein Hamas-Regime in Gaza langfristig unterstützen werde. Der Grund dafür ist, dass sich beide vor dem zunehmenden Einfluss der Al-Qaida in der Region fürchten.

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