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Gott fehlt

Nirgends sonst wird das Leid der im Holocaust vernichteten Juden so deutlich wie in Yad Vashem in Jerusalem. Ein Rundgang, der erschüttert – und doch Hoffnung gibt. Von Nicolai Franz
Erinnerung an die jüdische Vergangenheit: Das „Tal der Gemeinden“
Eine Glasplatte, darunter Schuhe. Alt und schmutzig sehen sie aus. Die Besucher von Yad Vashem laufen darüber hinweg, mancher bleibt stehen. Die Schuhe gehörten Insassen eines Konzentrationslagers. Jetzt sind sie stille Zeugen jener dunkelsten Stunde der deutschen Geschichte, 70 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz bergen sie immer noch eine unheimliche Kraft, die erschaudern lässt. Yad Vashem will kein Leid zur Schau stellen, sondern ernsthaftes Erinnern an die unzähligen Menschen mit jüdischem Hintergrund leisten, die unter dem Nationalsozialismus gelitten haben. Hier bekommen die sechs Millionen Juden ihr Denkmal, eine Stimme, ein Gesicht. Alle Namen sollen in der kuppelförmigen „Halle der Namen“ vermerkt werden, es sind bisher nur vier Millionen. Die Namen der übrigen zwei Millionen Ermordeten waren noch nicht zu ermitteln. In manchen Gemeinden ist niemand mehr übrig geblieben, der die Namen hätte weitergeben können. Im „Tal der Gemeinden“ sind alle bekannten jüdischen Gemeinden dennoch in Stein gemeißelt, weit verzweigt reichen die Gänge, in denen die groben, massiven Felsblöcke unregelmäßig aufeinander geschichtet sind. Das Museum selbst hat die Form eines dreieckigen Schlauchs, durch den man sich hindurchschlängelt, um die Installationen zu betrachten. Auf den Bildschirmen laufen Erfahrungsberichte ehemaliger Ghettobewohner wie Marcel Reich-Ranicki. Hakenkreuze, Kleidung, Fotos, Miniaturen von Konzentrationslagern, teils chronologisch angeordnet, von der ersten Verwirrung bis zur Vernichtung. Besonders eindrucksvoll ist die Video-Installation im Eingangsbereich. Aus der Perspektive eines von rechts nach links schreitenden Wanderers erleben die Besucher das jüdische Leben in Europa, das es einst gab, und das die Nazis auszuradieren versuchten. Glückliche Familien winken aus den Fenstern, ein paar Senioren nicken freundlich. Trotz aller Repressionen der vergangenen Jahrhunderte war es eine unbeschwerte Zeit im Vergleich mit dem, was folgte, und was wohl keiner der Juden ahnte, deren Gesichter zufrieden in die Kamera lächeln. Und doch deutet schon die dreieckige Form der Videoleinwand und des Gebäudes das Leid an, an das Yad Vashem erinnern will. Aus der festen Verbindung zweier Dreiecke besteht der Davidstern, eines für den Menschen, eines für Gott. In der Gedenkstätte gibt es immer nur ein Dreieck. Der Mensch, vollkommen verlassen von Gott, das war und ist der Holocaust auch heute für viele Juden. Auf dem Gelände haben die Initiatoren einen Eisenbahnwaggon installiert, mit dem Juden deportiert wurden. Hoch ragen die Schienen in die Höhe. Sie führen ins Nichts. Die Sinnlosigkeit des Leids, die Verbindung zwischen unfassbarer Vergangenheit und fassbarer Gegenwart, sie ist hier so eindrücklich, wie es kein Geschichtsbuch und keine Fernsehreportage sein könnte. Sie ist auch heute noch der Orientierungspunkt für Juden, die ihre eigene Identität, wann auch immer sie geboren sein mögen, nicht trennen können von dem Schicksal, das über ihre Vorfahren gekommen war. Yad Vashem ist aber nicht nur ein Ort des Verzweifelns angesichts des unmessbaren Leids, sondern auch ein Ort der Hoffnung. Nach zwei Stunden ist das Museum durchlaufen. Die stillen Schreie der Opfer liegen zurück. Am Ausgang des Museums öffnet sich das Dreieck des Gebäudes. Die Seiten fliehen nach außen in die Weite, dem Besucher eröffnet sich ein breites Panorama, ein Horizont, der motiviert, nach vorne zu schauen, ohne das Vergangene zu vergessen. Ein neuer Anfang.

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