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Die Pracht der „Weißen Stadt“

Ein Architektur-Ensemble von mehreren tausend Gebäuden im Bauhaus-Stil ist in Tel Aviv zu Hause – die weltweit größte Ansammlung dieser Bauten. Europäische Juden, die zur Zeit des Nationalsozialismus nach „Eretz Israel“ auswanderten, prägten maßgeblich den Stil der „Weißen Stadt“.
Die herausragende kulturelle Qualität des Bauhaus-Stils in Tel Aviv zeigt sich auch anhand der „Verschmelzung der Gebäude mit ihrem urbanen Umfeld“

Es ist eine Art Schatzsuche auf städtischem Terrain: Wie kleine architektonische Edelsteine findet der Stadtbesucher sie – die zahlreichen Gebäude im Bauhaus-Stil im Herzen Tel Avivs. Rund 4.000 sind es an der Zahl. Auch die UNESCO hat diesen Schatz für sich entdeckt und kürte die „Weiße Stadt“, das Zentrum Tel Avivs, 2003 zum Weltkulturerbe. Zum 100-jährigen Jubiläum des legendären Bauhauses, das Walter Gropius im Jahr 1919 als Kunstschule in Weimar gründete, lohnt sich der Blick auf die Mittelmeermetropole.

Tel Aviv, erst 1909 gegründet, nahm in den 1930er-Jahren den Bauhaus-Stil an und entwickelte sich so zur „Weißen Stadt“: weiße Fassaden, flache Dächer, Gebäude auf Stützen, markante Fenster und Balkone als zentrale optische Bestandteile. Die Architektur sollte sich von den Bautraditionen der meist osteuropäischen Herkunftsländer der Einwanderer und von dem im Nahen Osten gepflegten Stil abheben. Tel Aviv ist zwar ähnlich stark geprägt durch die Einflüsse des schweizerisch-französischen Architekten Le Corbusier oder des Deutschen Erich Mendelsohn, dessen Stil expressionistische Elemente enthält. Aber das Bauhaus hat in der Küstenmetropole am Mittelmeer tiefe kulturelle Spuren hinterlassen.

„Bauhaus“ ist umgangsprachlicher Begriff

Wobei der wissenschaftlich angemessenere Begriff für die Architektur der „Weißen Stadt“ „Internationaler Stil“ ist. Ihn führten 1932 der Architekturtheoretiker Henry-Russell Hitchcock und der Architekt Philip C. Johnson ein. Er beschreibt ein funktionelles Design, das die europäische Architektur der 1920er-Jahre prägte. Umgangssprachlich ist „Bauhaus“ aber zum Synonym für den „Internationalen Stil“ in Tel Aviv geworden. Für die Programmdirektorin des „White City Center“ in Tel Aviv, Scharon Golan Jaron, bietet die Stadt nicht einzelne architektonische Bauhaus-Meisterwerke. Die herausragende kulturelle Bedeutung der Stadt erklärt sie über die „Verschmelzung der Gebäude mit ihrem urbanen Umfeld“.

Der spezifische Bauhaus-Stil in Tel Aviv, der sich an die klimatischen und kulturellen Bedingungen vor Ort anpasste, zeigte sich vor allem im Verhältnis der Gebäude zur Straße. Balkone förderten soziale Interaktion. Sie dienten als Kommunikationsplattformen zwischen Nachbarn und wurden als Erweiterungen des Wohnzimmers angesehen. Über sogenannte Thermometer-Fenster, die einen kühlenden Kamineffekt auf die Räumlichkeiten haben, kam natürliches Licht ins Treppenhaus. Flachdächer wurden genutzt, um im Freien zu schlafen, Gärten anzulegen oder zu feiern.

Formvollendete schlichte Balkone in Tel Aviv Foto: Israelnetz/Martina Blatt
Formvollendete schlichte Balkone in Tel Aviv

Als grüne und luftige Gartenstadt geplant

Am Anfang der „Weißen Stadt“ steht der Schotte Patrick Geddes. Die Briten beauftragten ihn 1925, für Palästina unter britischem Mandat neue stadtplanerische Ideen zu entwickeln. Ursprünglich wollte er Tel Aviv in eine grüne und luftige Gartenstadt verwandeln. Aber die Stadt wuchs unerwartet schnell von 1932 bis 1938. Vor allem nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland flohen in den Folgejahren 200.000 europäische Juden nach Palästina. Die Tel Aviver Bevölkerung verdreifachte sich bis 1938 auf 150.000 Einwohner. In kürzester Zeit entstanden dicht gedrängt Wohn- und Verwaltungsgebäude.

Den Nationalsozialisten war die Internationalität des Bauhauses bei Lehrkräften und Studenten suspekt. Sie sahen einen „Kultur­bolschewismus“ und schlossen die Kunstschule 1933. Viele Bauhaus-Vertreter waren gezwungen, Europa zu verlassen. Junge Architekten aus Palästina wie Arje Scharon, Schmuel Mestechkin, Schlomo Bernstein und Chanan Frenkel waren im Bauhaus in Weimar und Dessau in der Lehre. Nach ihrer Rückkehr wurden sie bedeutende Architekten im späteren Staat Israel. Mit einheitlicher und einfacher Architektursprache wollten sie pragmatisch Probleme der zionistischen Bewegung lösen. Laut Jaron schaffte es die Gruppe, die Ästhetik des Jischuv, also der Gemeinschaft zionistischer Juden im Nahen Osten, zu verändern: „Die Bauten wurden zum architektonischen Ausdruck des Wunsches, eine neue nationale Identität zu schaffen.“ Die Hochphase der Bauhaus-Bewegung ging in Tel Aviv von 1931 bis 1937.

Das „Hotel Cinema“ war früher einmal das Esther-Kino und liegt am heutigen Dizengoff-Platz in Tel Aviv Foto: Israelnetz/Martina Blatt
Das „Hotel Cinema“ war früher einmal das Esther-Kino und liegt am heutigen Dizengoff-Platz in Tel Aviv

Kibbutzim von Bauhaus geprägt

Häuser mit Stahlbetonrahmen sparten im Gegensatz zum bis dahin vorherrschenden Stil mit tragenden Wänden und vielen Verzierungen Zeit und Geld. Den handwerklich einfach zu bearbeitenden Kalkstein gab es vor Ort. Bis heute werden auf israelischen Baustellen damals eingeführte deutsche Begriffe wie „Waschputz“, „Sockel“ oder „Unterkante“ benutzt.

In den 1930er Jahren kamen zahlreiche verbaute Produkte und Maschinen in Tel Aviv aus Deutschland. Das „Ha‘avara“-Abkommen zwischen den Nationalsozialisten und der zionistischen Bewegung aus dem Jahr 1933 besagte, dass vermögende Juden ihren finanziellen Besitz nur in Form von deutschen Exporten in die neue Heimat „Eretz Israel“ mitbringen durften.

Israels wichtigster Bauhaus-Architekt

Arje Scharon wurde zu Israels wichtigstem Bauhaus-Architekten. 1920 wanderte der damals 20-Jährige aus dem galizischen Jaroslau nach Palästina aus. Ab 1926 studierte er Architektur in Dessau. Er ist der einzige der ursprünglichen Bauhaus-Schüler, der mit einem Gebäudekomplex in der „Weißen Stadt“ vertreten ist. Geprägt durch sein Leben im Kibbutz Gan Schmuel verband er die Ideale des Sozialismus mit architektonischen Formen. 1949 beauftragte ihn der Premierminister des neu gegründeten Staates Israel, David Ben-Gurion, einen Plan für das ganze Land zu entwerfen. Scharon legte dabei das strategische Gesamtkonzept für neue Städte, Industrie- und Agrarflächen, Infrastruktur und Nationalparks unter dem Namen „Physical Planning in Israel“ (Physische Planung in Israel) fest.

Auch die Kibbutzim wurden stärker von Bauhaus-Gedanken geprägt. Schüler wie Scharon, Mestechkin oder Weintraub brachten in die ländlichen Kollektiv-Siedlungen Ideen ein. Sie hatten Einfluss auf Wohnen und Arbeiten. Die israelischen Speisesäle ähnelten den Räumen der Studenten und Lehrenden vom Dessauer Bauhaus-Gebäude, wo Versammlungen stattfanden und gemeinsam gefeiert wurde. Der Werkstattflügel des Bauhauses war Vorbild für die kollektiven Produktionszonen der Kibbutzim. Heute befindet sich ein Großteil der „Weißen Stadt“ in Privatbesitz. Jährlich zieht es Tausende Architekturinteressierte nach Tel Aviv, um den besonderen Baustil im Licht der Mittelmeermetropole zu begutachten.

Diesen Artikel finden Sie auch in der Ausgabe 3/2019 des Israelnetz Magazins, wo der Bauhaus-Stil in Israel Titelthema war. Sie können die Zeitschrift kostenlos und unverbindlich bestellen unter der Telefonnummer 06441/5667752, via E-Mail an info@israelnetz.com oder online. Gerne können Sie auch mehrere Exemplare zum Weitergeben oder Auslegen anfordern.

Von: Michael Müller und Martina Blatt

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