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Qumranforschung, Israel-Studien und ein Paulus-Zitat

Seit 200 Jahren gibt es offiziell die Wissenschaft des Judentums als akademische Größe. Doch bis zur Anerkennung war es ein weiter Weg, wie eine Konferenz in Heidelberg feststellte. Indes ist der Bereich der Israel-Studien noch ausbaufähig.
Befassten sich mit Israel-Studien und mit der deutschen Sicht auf Tel Aviv: (v.l.) Jenny Hestermann, Hanna Tzuberi, Moderator Henning Sievert und Johannes Becke

HEIDELBERG (inn) – „Hier wird die ganze Literatur der Juden, in ihrem größten Umfange, als Gegenstand der Forschung aufgestellt, ob ihr sämtlicher Inhalt auch Norm für unser eigenes Urteilen sein soll oder kann.“ Das schrieb der jüdische Student Leopold Zunz 1818 in seinem Aufsatz „Etwas über rabbinische Literatur“. Ein Jahr später gründete er mit gleichgesinnten Wissenschaftlern den „Verein für die Wissenschaft und Kultur des Judentums“. Seine Anmerkung stellt klar: Hier sollte ergebnisoffen Forschung betrieben werden, die allein der Wahrheit verpflichtet sei.

Doch trotz der edlen Gesinnung sollte es viele Jahrzehnte dauern, bis die Wissenschaft des Judentums in der nichtjüdischen akademischen Landschaft offiziell anerkannt wurde. Das hat vergangene Woche eine internationale Konferenz in Heidelberg gezeigt, bei der auch Wissenschaftler aus Israel und eine Hebräischdozentin aus Ägypten mitwirkten. Sie stand unter dem Thema: „Grauzonen: Zwei Jahrhunderte Wissenschaft des Judentums“. Die Vortragsreihen befassten sich unter anderem mit historischen und religionsphilosophischen Aspekten, aber auch mit der Bedeutung der Israel- und Nahoststudien, Musikwissenschaft oder Theologie.

Unter dem Titel „Klassische Geschichte und Jüdische Studien“ befasste sich etwa der Salzburger Historiker Mihaly Riszovannij mit dem Rabbiner Moritz Rahner. Dieser hatte im 19. Jahrhundert den Zusammenhang zwischen Hieronymus‘ lateinischer Bibelübersetzung und hebräischen Traditionen erforscht. In einem weiteren Vortrag ging der Argentinier Rodrigo Laham Cohen (Buenos Aires) auf die Situation der wissenschaftlichen Recherche über das Judentum in Südamerika ein – als Beispiel diente ihm die spätantike jüdische Geschichte. Bislang gibt es dort nur wenige Lehrstühle, die sich judaistischen Themen widmen.

Der Qumranexperte Lawrence Schiffman von der Universität New York analysierte die Unterschiede zwischen christlicher und jüdischer Forschung zum Judentum während des zweiten Jerusalemer Tempels. So hätten Christen die Qumranrollen anfangs ohne jüdischen Kontext interpretiert, mit einer Betonung von Messianismus und klösterlichem Leben. Bereits im 16. Jahrhundert seien die Essener als jüdische Gruppe in einen christlichen Bereich „entführt“ worden. Doch der Amerikaner räumte ein, dass auch jüdische Gelehrte das Neue Testament oft ohne den zugehörigen Kontext studierten.

Geschichte des ESC: Israel reagierte auf politische Entwicklungen

Veranstalter der Tagung war die Hochschule für Jüdische Studien (HfJS) in Heidelberg. Deren Rektor Johannes Heil wandte sich einem musikwissenschaftlichen Thema zu: Antisemitismus in der Musik. Als Beispiel brachte er neben Richard Wagner die Oper „Salome“ von Richard Strauss, der ein Text von Oscar Wilde zugrunde liegt. Darin kommt in der 4. Szene ein negativ konnotiertes Judenquartett vor. Aus Sicht des Historikers ist diese Szene überflüssig für die Handlung. Er forderte, dass Programmhefte auf deren antisemitischen Charakter hinweisen.

Daniel Mahla vom Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur der Ludwig-Maximilians-Universität München setzte sich mit der Frage auseinander, ob Israel europäisch sei. Als Hintergrund diente ihm der Eurovision Song Contest. Bei der ersten Teilnahme 1973 in Luxemburg belegte die israelische Kandidatin Ilanit gleich den vierten Platz. Fünf Jahre später gab es den ersten Sieg für Israel, so dass der Wettbewerb 1979 in Jerusalem ausgetragen wurde. Der Heimsieg von „Milk and Honey“ begeisterte die Israelis so sehr, dass viele forderten, das erfolgreiche Lied „Hallelujah“ zur Nationalhymne zu machen – das Kabinett von Premierminister Menachem Begin diskutierte sogar ernsthaft über diesen Vorschlag. Offiziell ist die „HaTikva“ erst seit 2004 die israelische Nationalhymne, zuvor hatte das Lied nur einen provisorischen Status.

Referierte über Israel beim ESC: Daniel Mahla Foto: Israelnetz/Elisabeth Hausen
Referierte über Israel beim ESC: Daniel Mahla

Als 1983 München der Austragungsort des ESC war, verbanden viele Israelis die Stadt mit dem Holocaust und mit dem palästinensischen Attentat bei den Olympischen Spielen elf Jahre zuvor. Dem trat Ofra Haza mit dem Titel „Am Israel Chai“ – „Das Volk Israel lebt“ – bewusst entgegen. Mahla ging auch auf den Sieg der transsexuellen Dana International 1998 in Birmingham ein. Die LGBT-Gemeinde habe begeistert reagiert, während Rabbiner Schlomo Benisri verlauten ließ, so etwas habe es nicht einmal in Sodom gegeben. Diplomaten wiederum hätten damit Argumente für eine europäische Identität des auf dem asiatischen Kontinent gelegenen Staates gehabt. 2009 in Moskau schickte Israel mit Noa und Miri Awad ein jüdisch-arabisches Duo zum Schlagerwettbewerb, um eine politische Aussage zu machen.

Netta Barzilai wiederum habe sich mit ihrem Siegeslied aus dem vorigen Jahr nicht auf die aktuelle politische Situation bezogen, sondern gegen den Kult um den perfekten Körper protestiert. Die im Publikum anwesende ägyptische Literaturwissenschaftlerin Menna Abukhadra merkte an, dass Netta in ihrem Heimatland beliebt gewesen sei – bis ihre israelische Identität bekannt wurde.

Israel-Studien in Deutschland: Arabischunterricht notwendig

Der Frage, ob Israel in Europa oder in Asien zu verorten sei, widmete sich auch Johannes Becke. Er hat an der HfJS den Ben-Gurion-Lehrstuhl für Israel- und Nahoststudien inne. Auf der Konferenz sprach er sich dafür aus, Israel in der Wissenschaft nicht mit europäischen oder anderen westlichen Ländern zu vergleichen. Vielmehr sollten sich die Israel-Studien regionale Vergleiche heranziehen – etwa zwischen Juden, Kurden und Berbern. Gemeinsam sei ihnen das – bei den Juden schon erfüllte – Streben nach einem eigenen Staat im Nahen Osten. Wichtig sei auch, dass Arabischunterricht in die Israel-Studien integriert werde.

Einen geschichtlichen Überblick über die israelbezogenen Studiengänge in Deutschland gab Jenny Hestermann von der Universität Frankfurt. Erste Studienreisen aus der Bundesrepublik nach Israel und damit persönliche Kontakte gab es demnach ab 1965, als die beiden Staaten diplomatische Beziehungen aufgenommen haben. Die Reiseberichte seien oft romantisch und von christlichem Philosemitismus geprägt gewesen. Diese Haltung habe sich nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 geändert, als linke antizionistische Gruppen auf den Plan traten.

Die Historikerin legte auch dar, wie etwa das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ in einer Sprache über den Sechs-Tage-Krieg berichtete, die an die Nazizeit erinnerte: So sei vom israelischen „Blitz-Feldzug“ die Rede gewesen, und die Armee sei mit Generalfeldmarschall Erwin Rommel verglichen worden. Sie wertete diese Formulierungen als Ausdruck des Wunsches, deutsche Schuld zu überwinden. Ein Gegengewicht hätten die Deutsch-Israelische Gesellschaft und die Deutsch-Israelische Parlamentariergruppe gebildet. Angesichts des großen Interesses an Israel in der Bevölkerung äußerte sich die Referentin verwundert darüber, dass bislang Israel-Studien im akademischen Deutschland fast überhaupt nicht angeboten werden.

Hannah Tzuberi von der Freien Universität Berlin thematisierte philosemitische Darstellungen der Stadt Tel Aviv in Deutschland. Die israelische Küstenmetropole gelte als „säkulares Paradies“, als „moderne Spaßstadt“. Die „Achse Berlin-Tel Aviv“ werde als „deutsch-jüdische Achse“ gewertet. Seltsamerweise habe es um die neue israelische Diaspora in der Bundeshauptstadt nie eine Integrationsdebatte gegeben, ähnlich sei dies bei der Einwanderung von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre gewesen. Vielmehr werde diese Zuwanderung als „Geschichte der Rückkehr“ gedeutet: „Ein Jude, der an den Ort zurückkehrt, wo er hingehört“.

Ein Paulus-Zitat und die Kabbala

Boas Huss von der Ben-Gurion-Universität in Be’er Scheva betitelte seinen Vortrag mit einem Zitat aus dem 2. Korintherbrief (3,6b): „Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.“ Die Kirchenväter und auch Martin Luther hätten die Juden wegen ihrer „Gesetzlichkeit“ angegriffen und das befreiende Evangelium dagegen gestellt. In der Renaissance hätten Christen wie Johannes Reuchlin in der Geheimlehre Kabbala eine befreiende Kraft für das Judentum gesehen. Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber wiederum habe die wiederentdeckte „Freude in Gott“ als Befreiung nach 1.000 Jahren Dominanz des Gesetzes interpretiert.

Die Wissenschaft des Judentums stand der Kabbala und auch dem in Osteuropa entstandenen Chassidismus kritisch entgegen, führte Huss aus. Der jüdische Religionshistoriker Gerschom Scholem, der das Werk „Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen“ verfasste, habe den Apostel Paulus als herausragendstes Beispiel für jüdischen Mystizismus betrachtet. Nach dessen Auffassung sei nicht das Judentum der tötende Buchstabe und das Christentum das befreiende Element. Vielmehr habe er die Halacha, also das Gesetz, als den Buchstaben und die Kabbala als das Leben gedeutet.

Begonnen hatte die Konferenz am Sonntag, dem 16. Juni, mit einem Einführungsvortrag über „Leidenschaft und Wissenschaft im frühen Zionismus“. Ihn hielt Derek Penslar von der Harvard-Universität bei Boston. Weitere Themen während der Tagung, die am Mittwoch endete, waren Jüdische Studien im osteuropäischen Kontext, Hebräisch als Symbolfigur oder jüdisch-arabische Literatur. Die Hebräischdozentin Abukhadra von der Universität Cambridge sprach über die Entwicklung der Israel-Studien in Ägypten.

Für die Tagung stellte auch das Musikwissenschaftliche Seminar einen Raum zur Verfügung Foto: Israelnetz/Elisabeth Hausen
Für die Tagung stellte auch das Musikwissenschaftliche Seminar einen Raum zur Verfügung

Einen beeindruckenden musikalischen Beitrag leistete das Ensemble „simkhat hanefesh“ (Freude der Seele). Die Musiker trugen auf alten Instrumenten jüdische Musik aus Europa vor: „A Journey through Ashkenaz. The Travels of Abraham Levie, 1719–1923“. Aschkenas war die hebräische Bezeichnung für das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Deshalb werden Juden aus Ost- und Mitteleuropa Aschkenasim genannt. Abraham Levie brach 1719 von Lemgo aus auf eine Reise auf, die ihn bis nach Italien führte. Seine Erinnerungen daran schrieb er in Amsterdam nieder. Das Ensemble hat zu diesem Text jüdische Musik aus Renaissance und Barock zusammengestellt.

„Kein Kaiser und kein Reichspräsident wäre zum Jubiläum gekommen“

Vor 200 Jahren hegte Mitbegründer Zunz große Hoffnungen bezüglich der Jüdischen Studien. Doch trotz aller Bemühungen gelang es der Wissenschaft des Judentums nach ihrer Gründung nicht, an deutschen Universitäten Fuß zu fassen. 1854 entstand deshalb das Jüdisch-theologische Seminar in Breslau, 1872 folgte die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin. Die beiden Einrichtungen wurden während des Zweiten Weltkrieges von den Nationalsozialisten geschlossen. An ihre Tradition knüpft die Hochschule für Jüdische Studien an, die eng mit der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg zusammenarbeitet. Mit ihrer Gründung 1979 ging der von Zunz geäußerte Wunsch schließlich in Erfüllung.

Konferenz und Jubiläumsfeier fanden in Zusammenarbeit mit der Heidelberger Universität statt Foto: Israelnetz/Elisabeth Hausen
Konferenz und Jubiläumsfeier fanden in Zusammenarbeit mit der Heidelberger Universität statt

Während der Konferenz feierte die HfJS ihr 40-jähriges Bestehen mit einem Festakt in der Neuen Universität. Anlässlich der beiden Jubiläen hat der Zentralrat der Juden in Deutschland eine „Jüdische Illustrierte“ herausgegeben. Rektor Heil stellt darin heraus, was sich seit 1819 verändert hat: „Kein Kaiser und auch kein Reichspräsident wäre, sollte jemand einmal eine solche Einladung erwogen haben, zu den Jubiläen der Breslauer und Berliner Hochschulen 1879, 1922 oder 1929 gekommen, auch nicht zu einer Hundertjahrfeier der Wissenschaft des Judentums 1919. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat wohl gar nicht erst gezögert. Seine Zusage kam prompt und herzlich.“ Beim Festakt hielt Steinmeier denn auch eine Ansprache, in der er die HfJS als „Symbol der Versöhnung“ würdigte.

Von: Elisabeth Hausen

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