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Wer im Iran den Hocker zieht

Das alltägliche Leben in Teheran scheint sich kaum von dem in irgendeiner modernen, pulsierenden Großstadt Europas zu unterscheiden. Gäbe es da nicht die Todesstrafe. Sie ist das Messer, das im Film „Es gibt kein Böses“ des iranischen Regisseurs Mohammad Rasoulof die Lebensgeschichten der Protagonisten in zwei Teile schneidet. Völlig zu Recht gewann dieser brillant erzählte Film am Samstagabend im Wettbewerb den Hauptpreis. Eine Rezension von Jörn Schumacher
Die Tochter des Regisseurs, Baran Rasoulof (Mitte), nahm den Goldenen Bären am Samstagabend in Berlin stellvertretend für ihren Vater an

„Sheytan vojud nadarad“ bedeutet „Es gibt kein Böses“ und ist Titel des zweieinhalb Stunden langen Episodenfilms, der am Samstagabend mit dem Goldenen Bären als bester Film im Wettbewerb der Berlinale ausgezeichnet wurde. In vier unzusammenhängenden Episoden erzählt der iranische Regisseur Mohammad Rasoulof kurze Geschichten, die nur an einem Punkt thematisch zusammenlaufen: der Todestrafe im Iran.

Es sei nur anhand einer Episode deutlich gemacht, mit welcher Erzählgewalt es Rasoulof gelingt, den Zuschauer in seinen Bann zu ziehen. In einer kleinen Zelle schläft der junge Soldat Pouya gemeinsam mit Kameraden auf schlichten Pritschen. Sein Gewissen hält ihn vom Schlaf ab. Denn morgen soll er zum ersten Mal eine Hinrichtung vornehmen. Doch er weiß, dass er diese schreckliche Tat nicht vollbringen kann – „den Hocker zu ziehen“ , wie es die jungen Soldaten vereinfachend ausdrücken. Pouya versucht verzweifelt die Nacht über, mit dem Handy eines Kollegen über seine Freundin draußen eine Versetzung in allerletzter Minute zu erwirken. Dieses fast shakespearhafte Dilemma spitzt sich immer mehr zu.

Ein Mitsoldat bietet dem jungen Mann sogar an, seinen Part zu übernehmen, für ihn also „den Hocker zu ziehen“. „Ich habe es schon oft gemacht, auf ein weiteres Mal kommt es nicht an“, sagt er. Doch ein anderer Soldat dieser nächtlichen Runde stellt sich dem entgegen, da werde das Gesetz gebrochen, und er werde es sofort den Vorgesetzten melden, falls die beiden Soldaten diesen Deal abschließen sollten. Für die einen Soldaten ist es ein Job, der erledigt werden muss, weil es Gesetz ist, und ohne Gesetz funktioniert ein Staat nun einmal nicht. Für Pouya aber bleibt es die Tötung eines Menschen. Regisseur Rasoulof fragt in seinen Episoden: Wie unfrei sind Menschen wirklich in einem unfreien Regime? Welche Auswege gibt es vielleicht doch? Soldat Pouya jedenfalls findet tatsächlich einen Ausweg.

„Sheytan“, das Böse, oder auch: Satan

Allein die erste der vier Episoden des 150-minütigen „Es gibt kein Böses“ wäre für sich genommen als Kurzfilm preisverdächtig. Da sehen wir den mittelalten Heshmat als freundlichen, vorbildlichen Ehemann und Vater. Heshmat, seine Ehefrau und deren liebenswerte kleine Tochter bilden eine Familie, wie es sie millionenfach auf der Welt geben könnte. Doch zu welcher Arbeitsstelle sich Heshmat morgens begibt, erfährt der Zuschauer auf so schockierende Weise, dass sie sich bei manchem Berlinale-Besucher ins Gedächtnis eingebrannt haben könnte.

Der Filmtitel („Sheytan vojud nadarad“ – „Es gibt kein Böses“) ist natürlich ironisch gemeint. Übrigens: Vom Wort Sheytan stammt unser Wort „Satan“ ab. Es gibt kein Böses, zumindest nicht sichtbar im Alltag. Unter der Schwelle des Sichtbaren, hinter dicken Mauern von Gefängnissen aber spielen sich im Iran regelmäßig Dramen ab, genauso vor wie hinter den Zellenmauern, das will uns Mohammad Rasoulof vermitteln.

Der Regisseur erzählt seine vier Episoden brillant, sein Film wurde zu Recht zum besten Film des Wettbewerbs gewählt. Rasoulof wurde 1972 im Iran geboren, schon während seines Soziologiestudiums drehte er Dokumentar- und Kurzfilme. Nach seinem zweiten Film „Iron Island“ wurde seine Arbeit immer weiter eingeschränkt. Alle seine sieben Langfilme fielen im Iran der Zensur zum Opfer. 2010 wurde er am Set verhaftet und zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt. Seit 2017 darf er den Iran nicht mehr verlassen. Dennoch wurde er mehrfach international für seine Arbeit ausgezeichnet, unter anderem beim Filmfestival in Cannes.

Den Goldenen Bären nahm am Samstagabend in Berlin Rasoulofs Tochter Baran entgegen.

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