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Von Lübeck nach Jerusalem

Chaim Cohn stammt aus Deutschland und hat das israelische Justizsystem mit aufgebaut. In seiner Autobiographie erzählt er auch, wie er den jüdischen Glauben verlor – dabei entsteht in mehrfacher Hinsicht ein Bruch. Eine Buchrezension von Elisabeth Hausen
Wuchs in einer frommen jüdischen Familie auf und verlor später seinen Glauben: Chaim Cohn

Nach der Gründung des Staates Israel im Mai 1948 mussten Juristen schnell ein funktionsfähiges und demokratisches Rechtssystem aufbauen. Maßgeblich daran beteiligt war der in Deutschland aufgewachsene Jude Chaim Cohn, der bereits früh die von den Nazis ausgehende Gefahr erkannte und über Frankreich ins Mandatsgebiet Palästina übersiedelte. In seiner Autobiographie „Aus meinem Leben“ schildert er das Ringen um gute Regelungen für Ehe, Speisevorschriften oder Schabbat. Dabei wird deutlich, woher manch aktuelles Problem in der israelischen Gesellschaft seinen Ursprung hat – etwa dass es keine Möglichkeit der Zivilehe gibt.

Am 11. März 1911 wurde Chaim Cohn in Lübeck geboren. Er wuchs in einem frommen Milieu auf. Ab dem dritten Lebensjahr erhielt er bei seinem Großvater Schlomo Carlebach, einem Rabbiner, die Unterweisung in den grundlegenden Schriften der jüdischen Glaubenstradition und in der hebräischen Sprache. Nach dem Tod seines Lehrers zog die Familie 1919 nach Hamburg. In der Realschule „Talmud-Tora“ unterrichtete ihn sein Onkel Josef Zvi Carlebach.

Katholischer Professor warnte vor Nationalsozialisten

Nach dem Schulabschluss studierte er in München Philosophie, orientalische Sprachen, Geschichte und Jura. Mit einem seiner drei Brüder besuchte er von 1931 bis 1932 eine Jeschiva in Jerusalem, gleichzeitig nahm er an Lehrveranstaltungen der Hebräischen Universität teil. In dieser Zeit fasste er den Entschluss, nicht Rabbiner, sondern Jurist zu werden. Und so schrieb er sich in Frankfurt am Main für das Jurastudium ein, wobei er sich seine bisherigen Semester anrechnen ließ. Für seine Doktorarbeit wählte er das Thema „Die Methodologie des talmudischen Rechts“.

Doktorvater war der katholische Professor Arthur Baumgarten. Ihn beschreibt Cohn als sehr toleranten Christen: „Er war ein frommer Katholik, der an den Schöpfergott glaubte, der jeden einzelnen Menschen in seinem Bilde erschaffen hatte, Christ wie Jude, Schwarze wie Weiße.“ Offenbar hatte Baumgarten auch den damals sehr seltenen Weitblick: „Am 31. Januar 1933, dem Tag, an dem die Nazis die Regierung antraten, rief mich Professor Baumgarten zu sich und teilte mir mit, dass er nicht einen Tag länger unter diesem Regime in Deutschland bleiben werde. Er hatte einen Ruf an die Universität Basel angenommen und riet mir, sich ihm anzuschließen und meine Prüfungen dort abzulegen.“

Gleichzeitig riet ihm der Professor, früher als geplant nach Palästina zu gehen und dort die Examina abzulegen. Im britischen Mandatsgebiet herrsche angelsächsisches Recht, so dass er den Doktortitel gar nicht brauche, denn dieser sei in England und im Commonwealth nicht üblich. „Ein guter Rat, der ganz meinem Herzenswunsch entsprach“, schreibt Cohn im Rückblick. Er heiratete in Straßburg und ließ sich im September 1933 mit seiner Ehefrau in Jerusalem nieder. Ein Bruder wurde in Auschwitz ermordet. Die Eltern kamen über Paris nach Jerusalem.

Als Nachtrag zu seinem Studium schildert der Autor ein „Beispiel für die Ordnungsliebe und Pedanterie der Deutschen“: Im Jahr 1951 habe er einen Brief von der Universität Frankfurt erhalten. Darin sei ihm mitgeteilt worden, dass seine Dissertation samt Gutachten von Professor Baumgarten im Archiv entdeckt worden sei. Auch die Unterlagen über die entrichteten Gebühren für die Examina lägen vor. „Nun bat man mich mitzuteilen, wann ich denn bereit wäre, zur mündlichen Prüfung und Verteidigung meiner Doktorarbeit zu erscheinen!“ Cohn war damals Rechtsberater der israelischen Regierung.

Berufliches Leben: Keine persönlichen Details mehr

In Jerusalem arbeitete er zunächst jedoch als Anwalt. Nach der Staatsgründung wurde er Staatsanwalt und Direktor des neuen israelischen Justizministeriums. Kurzzeitig fungierte er 1952 als Justizminister, später wurde er Richter am Obersten Gerichtshof und übernahm 1979 dessen Vorsitz. Der 1985 gegründet Lehrstuhl für Menschenrechte an der Juristischen Fakultät der Hebräischen Universität ist nach Chaim Cohn benannt.

Die Kapitel, die sich mit den Jugendjahren, der Ausbildung und den ersten Erfahrungen in Jerusalem befassen, sind spannend geschrieben. Sie bieten viele Einblicke in Cohns persönliche Erfahrungen und in die Welt des orthodoxen Judentums Anfang des 20. Jahrhunderts. Dies endet jedoch, als er beginnt, sich ausführlich mit juristischen Einzelheiten zu befassen. Interessanterweise geschieht der Bruch etwa zu der Zeit, in der er seinen Glauben an Gott verliert und zum Humanisten wird – sich aus seiner Sicht also vom „Joch der Gebote“ befreit. Hat er etwa den Lesern noch mitgeteilt, wie er seine spätere Frau kennen und lieben lernte und sich gegen den Widerstand der Eltern durchsetzen musste, erwähnt er seine Familie später überhaupt nicht mehr. Eine Bildunterschrift besagt, dass er „mit seiner ersten Frau Elischeva“ 1933 auf dem Weg nach Palästina zu sehen sei. Also hat er offenbar noch ein zweites Mal geheiratet. Doch weder das Buch selbst noch der recht trockene Lebenslauf am Ende geben hier Aufschluss.

Ein Kapitel trägt die Überschrift „Glaube an Gott“. Hier bringt Cohn ausführlich Argumente gegen einen solchen Glauben hervor. Er geht davon aus, dass Menschen sich einen Glauben zusammenstellen, wenn sie einen Vater oder eine Führungsperson in ihrem Leben benötigen. Zwei Kapitel später schreibt er dann unter der Überschrift „Glaube an den Menschen“, was seine neue Überzeugung ist.

Widerstand gegen rabbinische Rechtsprechung

An die Stelle der kleinen und großen biographischen Erlebnisse treten nun ausführliche Berichte über juristische Auseinandersetzungen. Einiges wiederholt sich. Cohn wird nicht müde zu betonen, welche Steine die Verfechter der rabbinischen Rechtsprechung dem Staat in den Weg gelegt hätten. Wer die Schilderungen verstehen möchte, sollte sich ein wenig mit Jura auskennen. Erschwerend kommen hebräische Fachbegriffe hinzu, die oft nicht übersetzt oder erklärt werden. Am Ende bleibt dem Leser dann die Erkenntnis, dass einmal mehr die Ultra-Orthodoxen in fanatischer Weise dem Aufbau einer säkularen Rechtsprechung im Wege gestanden hätten.

Dabei zitiert der Autor häufig aus der Hebräischen Bibel oder aus rabbinischen Quellen wie dem Talmud. Die Liebe und Bewunderung, die er in seinen Jugendjahren für die traditionellen Texte empfand, scheint ihm auch beim Verlust des Glaubens nicht abhanden gekommen zu sein. Diese Zitate sind mit Quellenangabe als solche gekennzeichnet. Er verweist auch darauf, dass er bereits mehrere Jahre vor der Staatsgründung bewusst das jüdische Recht studiert und es „auf seine Anpassungsmöglichkeiten an die modernen und demokratischen Erfordernisse“ überprüft habe. In diesem Zusammenhang spricht er mit Hochachtung von der Tradition.

Auch auf das Neue Testament beruft er sich mitunter – aber dann vor allem, um dagegen zu polemisieren. Doch hat er sich auch ausführlich aus juristischer Sicht mit dem Prozess gegen Jesus befasst und dabei dessen „Lehre und edle Ethik schätzen gelernt“. Aus diesen Untersuchungen ging das Buch „Der Prozeß und Tod Jesu aus jüdischer Sicht“ hervor, das 1997 auf Deutsch erschien.

Gebote aus gesundheitlichen Gründen sinnvoll

Ein Thema, mit dem sich die Gesetzgeber nach 1948 befassen mussten, waren die Speisevorschriften. Dazu merkt Cohn kritisch an, er könne sich Gott nicht als „Oberaufseher“ für alles vorstellen, was in der Küche des jüdischen Volkes vor sich gehe. Die Schwierigkeit sieht er indes nicht in der Natur der Verbote, die seinerzeit aus gesundheitlichen Gründen sinnvoll gewesen sein mögen. Das Problem bestehe vielmehr in der Zuschreibung der Gesetze an Gott.

Im Zusammenhang mit der Zivilehe merkt Cohn an, dass die Briten hier das osmanische Recht übernommen hätten: Für Regelungen zum Personenstand war die jeweilige religiöse Instanz zuständig. Dies gilt in Israel bis heute. Es gibt jüdische und muslimische Gerichte. Nicht nur hier wird deutlich, mit welchen Schwierigkeiten die Gründungsväter des jüdischen Staates zu kämpfen hatten. Wer sich durch die langen Abhandlungen hindurchwühlt, gewinnt durchaus neue Erkenntnisse.

Chaim Cohn verstarb am 10. April 2002 in Jerusalem. Die Originalausgabe seiner Autobiographie erschien drei Jahre später auf Hebräisch. Manch ein Leser wird es bedauern, mit dem Autor nicht mehr über seine Ausführungen diskutieren zu können – was diesem möglicherweise auch Freude bereitet hätte.

Foto: Suhrkamp Verlag, Teddy Brauner

Chaim Cohn: „Aus meinem Leben – Autobiographie“, Suhrkamp, 422 Seiten, 28 Euro, ISBN: 978-3-633-54291-8

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