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Die Agentur, die Treffen mit Gott arrangiert

Die israelischen Geheimdienste zählen zu den besten auf der ganzen Welt. Das hochinformative Buch „Der Schattenkrieg“ erklärt, warum das so ist. Autor Ronen Bergman hinterfragt bei der Schilderung der Geschichte aber auch deren Moral und Folgen für die Politik. Eine Rezension von Michael Müller
Der Autor Ronen Bergman („Der Schattenkrieg“) ist im vergangenen Dezember mit dem prestigeträchtigen Sokolov-Preis in Israel ausgezeichnet worden

Wenn jemand kommt, um dich zu töten, dann stehe auf und töte ihn zuerst. Dieses Talmud-Zitat der Selbstverteidigung stellt der israelische Journalist Ronen Bergman seinem Buch „Der Schattenkrieg. Israel und die geheimen Tötungskommandos des Mossad“ voran. Der deutsche Untertitel ist dabei etwas irreführend: Bergman beschreibt kenntnisreich und detailliert die Geschichte aller israelischer Geheimdienste – nicht nur die des Auslandsgeheimdienstes Mossad. Der englische Untertitel lautet wörtlich übersetzt: „Die geheime Geschichte von Israels gezielten Tötungen“.

Das Attentat als militärisches Mittel des israelischen Staates, so eine der Kernthesen Bergmans, basiert auf dem Trauma des Holocausts und der daraus gezogenen Erkenntnis, dass Israel ständig die Vernichtung droht und in diesem Fall niemand zu Hilfe kommen wird. Die andauernde Bedrohung durch arabische Staaten und den arabischen Terrorismus habe die israelischen Geheimdienste dadurch über die Jahrzehnte zur „robustesten Attentatsmaschinerie der Geschichte“ entwickelt.

Das Buch beginnt mit den Vorläufern der israelischen Geheimdienste. Die geheime Einheit der jüdischen Untergrundarmee Haganah in Palästina unter britischem Mandat hieß Gmul (Hebräisch für Vergeltung). Sie jagte hochrangige Nationalsozialisten, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Uniform abgestreift hatten und untergetaucht waren. Es waren diese jüdischen Männer, die dann beim Aufbau der Streitkräfte und der Geheimdienste zentrale Rollen in Israel eingenommen haben. Überhaupt ist das ein roter Faden des Buches: Jedes Kurzportrait auf israelischer Seite trägt die persönliche Erfahrung oder die Erfahrung von Familienmitgliedern mit dem Holocaust in sich.

Premierminister Benjamin Netanjahu, Staatspräsident Reuven Rivlin und der aktuelle Mossad-Chef Jossi Cohen vergeben im Dezember 2017 Auszeichnungen an verdiente Mossad-Mitarbeiter Foto: Kobi Gideon / GPO
Premierminister Benjamin Netanjahu, Staatspräsident Reuven Rivlin und der aktuelle Mossad-Chef Jossi Cohen vergeben im Dezember 2017 Auszeichnungen an verdiente Mossad-Mitarbeiter

„Weitaus moralischer als Kriegsführung“

Zur Moral der Geheimdienste lohnt ein Blick auf die Aussage des ehemaligen Mossad-Chefs Meir Dagan, der von 2002 bis 2011 den israelischen Auslandsgeheimdienst leitete. Für ihn seien die gezielten Tötungen der Einsatzteams „weitaus moralischer“ als eine „uneingeschränkte Kriegsführung“. Das Prinzip lautet: Die Neutralisierung einiger weniger wichtiger Personen verhindere die Option eines unkalkulierbaren Krieges.

In den Anfangstagen der Geheimdienste war Natan Rotberg eine wichtige Persönlichkeit. Der kräftige Schnauzbartträger galt als der Sprengstoffexperte für Spezialmissionen. Er mischte tödliche Chemikalien in einem Bottich bei Tel Aviv zusammen. Sein Spezialgemisch wurde in Weidenkörben, Feuerzeugen, Früchten und Möbelstücken versteckt. Im Interview sagte er im Rückblick auf seine Karriere: „Man muss wissen, wie man dem Feind vergibt. Allerdings steht es uns nicht zu, Leuten wie Bin Laden zu vergeben.“ Das könne nur Gott. Sein Job sei es gewesen, ein Treffen zwischen den beiden zu arrangieren. Sein Labor nannte er eine Kontaktagentur.

Sich gegenseitig hochschaukelnde Wellen der Gewalt

Bergman beschreibt die sich über Jahrzehnte gegenseitig hochschaukelnden Wellenbewegungen: der Terror gegen Israel und die Gegenmaßnahmen des Militärs und der Geheimdienste. Auf eine triumphale Mission des Mossad reagierte die Gegenseite mit härteren Bandagen und mehr Skrupellosigkeit. Auf den aus Ägypten gelenkten Terror der 1950er-Jahre und vereitelte Atomraketenprojekte am Nil folgten die Gründung der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) und Flugzeugentführungen auf der ganzen Welt.

Die Darstellung des Konflikts reicht bis in die Gegenwart zu Terror-Organisationen wie der Hisbollah und der Hamas, deren Selbstmordanschläge die israelischen Geheimdienste vor ganz neue Herausforderungen stellten. Diese fortlaufende Spirale, die Bergman auf über 800 Seiten nachzeichnet, hinterlässt neben immensem Wissen und dem Respekt vor der Rechercheleistung auch ein Gefühl der Lähmung und Verzweiflung.

Es gibt spannende, hochinformative Kapitel, etwa über die Eichmann-Entführung des Mossad in Argentinien oder die herzzerreißende Schilderung des Totalversagens deutscher Behörden beim Attentat auf Israelis während der Olympischen Spielen 1972. Aber für jedes dieser Kapitel gibt es Abschnitte über den Exzess der Gewalt auf beiden Seiten. Da schont Bergman den Leser bewusst nicht. Das gilt für ermordete jüdische Familien auf der einen und den außer Kontrolle geratenen israelischen Geheimdienstapparat Ende der 1970er-Jahre im Libanon auf der anderen Seite. Dieses Buch ist auch die Geschichte von Misserfolgen, Selbstüberschätzung, unprofessionellem Verhalten und den Traumata einiger israelischer Agenten.

Der Prozess gegen Adolf Eichmann im Jahr 1961 Foto: GPO
Der Prozess gegen Adolf Eichmann im Jahr 1961

„Wo nicht weiser Rat ist, da geht das Volk unter“

Viele scharfe Analysen der politischen Geschichte und bemerkenswerte Kurzportraits von Gegnern und Verteidigern Israels werten Bergmans Recherche auf. Das Emblem des Mossad entwarf zum Beispiel der israelische Spion Schlomo Cohen-Abarbanel, der unter falschen Namen in Frankreich Bilder an den ägyptischen Kultusminister verkaufte. Für den Mossad zeichnete er die siebenarmige Menora aus dem heiligen Tempel in Jerusalem. Die Siegelinschrift des Emblem lautete „Denn mit Überlegung soll man Krieg führen“ (Sprüche 24,6). Später wurde sie geändert: „Wo nicht weiser Rat ist, da geht das Volk unter; wo aber viele Ratgeber sind, findet sich Hilfe“ (Sprüche 11,14). Die Botschaft war klar: Der Mossad sollte der wichtigste Schutzschild des jüdischen Volkes sein.

Bergman, der bei seiner siebeneinhalbjährigen Recherchearbeit auch viel Gegenwind von offizieller israelischer Seite bekommen hat, hinterfragt die Operationen der Geheimdienste: Wie wirkungsvoll sind die Maßnahmen? Wird die Welt durch sie ein sicherer Ort? Sind die Maßnahmen ethisch und juristisch von einem Land zu vertreten, wenn es dadurch seine Bürger schützt? Der Autor nennt Zahlen: Bis September 2000 habe der israelische Staat etwa 500 gezielte Tötungsmissionen angeordnet. Dabei seien mindestens 1.000 Menschen getötet worden. Seitdem seien bis zur Veröffentlichung dieses Buches 800 gezielte Tötungen hinzugekommen. Als Vergleichswert führt Bergman amerikanische Tötungsmissionen während der achtjährigen Amtszeit des US-Präsidenten Barack Obama an: Da habe es 353 Anschläge gegeben.

Der Konflikt, den dieses Buch aushalten muss, ist folgender: In den Augen Bergmans haben sich in Israel zwei Rechtssysteme entwickelt – eines für gewöhnliche Bürger und eines für Mitarbeiter der Geheimdienste. Das habe zu „hoch problematischen Tötungsmissionen“ geführt, bei denen auch viele unschuldige Menschen ihr Leben verloren. Gleichzeitig seien es gerade diese Attentate gewesen, die äußerst wirksam den Terror bekämpften und Israel vor schweren Krisen bewahrt hätten. Der Mossad, der Inlandsgeheimdienst Schabak und der Militärgeheimdienst AMAN hätten früher oder später immer operative Antworten auf die Probleme der israelischen Staatsführung gefunden. Zu den besten Geheimdiensten der Welt zu gehören, erklärt sich unter anderem durch die Geschichte des jüdischen Volkes, den Holocaust und die dauerhafte Bedrohungslage im Nahen Osten. Das Problem an den operativen Antworten ist in den Augen Bergmans aber: Die meisten führenden Politiker hätten so die Illusion akzeptiert, verdeckte Operationen könnten an die Stelle der Diplomatie treten, wenn es darum geht, die Konflikte im Nahen Osten zu lösen.

Ronen Bergman: „Der Schattenkrieg. Israel und die geheimen Tötungskommandos des Mossad“, DVA, 866 Seiten, 36 Euro, ISBN: 978-3-421-04596-6

Von: mm

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