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In Deutschland unterschätzt: Der israelische Film

Das israelische Kino ist vielfältig, lebendig und in den vergangenen Jahren sogar preisgekrönt. Dieser Eindruck verfestigt sich nach der Lektüre des neuen Buches „Jenseits der Frontlinien“. Es lädt zu einer Entdeckungstour durch die moderne israelische Filmlandschaft ein. Eine Rezension von Michael Müller
Guter Einstieg: Wer immer schon mal Lust hatte, ins israelische Kino einzutauchen, liegt hier richtig
Das neue filmwissenschaftliche Buch „Jenseits der Frontlinien“ soll Aufklärungsarbeit leisten. In den Augen des Mitherausgebers C. Bernd Sucher erlauben sich große Teile der deutschen Öffentlichkeit viel zu oft, über die politischen Verhältnisse in Israel zu richten. Meistens geschehe das Israel-kritisch und pro-palästinensisch. Als jemand, der Israel besucht und die komplexe Lage selbst erlebt hat, will sich Sucher ein Urteil nicht anmaßen. Lieber wollen er und seine Mitautoren in diesem Essay-Band zeigen, wie der moderne israelische Film gerade auch in Deutschland noch immer unterschätzt wird und wie kritisch sich die kreativen Intellektuellen in Israel mit dem eigenen Staat auseinandersetzen. Die härteste Währung, in der Erfolg heutzutage gemessen werden kann, ist nicht das Einspielergebnis. Es sind die Filmnominierungen für den Auslands-Oscar. Zwischen 2008 und 2012 schafften es tatsächlich vier israelische Filme, nominiert zu werden: „Beaufort“, „Waltz with Bashir“, „Ajami“ und „Footnote“. Damit war Israel in fünf Jahren gleich vier Mal unter den besten fremdsprachigen Filmen der Welt vertreten, wenn es nach der Oscar-Jury geht. Herausgeber Sucher betont, dass der Erfolg beim Auslands-Oscar nicht allein von Juden, sondern auch von Muslimen errungen wurde. Deswegen möchte er mit „Jenseits der Frontlinien“ auch die integrierende, völkerverständigende und Grenzen überschreitende Kraft der Filmkunst beschwören. Ein Schwerpunkt des Buches liegt auf Aufsätzen zu israelischen Filmen, die sich mit der Aufarbeitung gesellschaftlicher Traumata beschäftigen. Der Dokumentarfilm „Waltz with Bashir“ erzählt im Zeichentrickstil – aus der persönlichen und heutigen Perspektive des Filmemachers Ari Folman – vom Ersten Libanonkrieg des Jahres 1982. Dort hat der Regisseur selbst als Soldat gedient. Die surrealen Szenerien seiner psychologischen Aufarbeitung kreisen im Kern um die Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila im Libanon. Israelische Soldaten griffen damals nicht ein, als maronitische Falange-Milizen in die Lager einfielen. Der Filmkritiker Shmulik Duvdevani, der für die israelische Tageszeitung „Yediot Aharonot“ arbeitet und Filmdozent an der Unversität Tel Aviv ist, hat dazu einen intellektuell anregenden Diskurs zum Thema Schuld beigesteuert.

Große Genrevielfalt

In dem israelischen Film „Lebanon“ wird derselbe Krieg aus der Perspektive von israelischen Soldaten in einem Panzer erzählt. Der Zuschauer sitzt mit den Armeeangehörigen die gesamte Filmlänge mit im Gefährt. Er erlebt, wie die Besatzung, den Krieg als klaustrophobisches Erlebnis und nur durch die Sehschlitze des Fahrzeugs. Aber es sind ganz unterschiedliche Genres, die das Buch aufzeigt: Feministische Filme wie „The Kindergarten Teacher“ („Die Kindergartenlehrerin“), in dem sich eine Lehrerin in die Poesie ihres Schülers verliebt; neuerdings auch Horrorfilme wie „Cannon Fodder“ („Kanonenfutter“), der erste Zombiefilm aus Israel; oder Dokumentarfilme wie „The Flat“ („Die Wohnung“), wo der Regisseur Arnon Goldfinger das Leben seiner eigenen jüdischen Großeltern erforscht. Der Dokumentarfilm „Dancing in Jaffa“ zeigt, wie sich jüdische und arabische Israelis über Tanz und Musik in einem Stadtteil von Tel Aviv interkulturell annähern. Besonders lesenswert ist ein Interview, das die beiden deutschen Autoren Anna Steinbauer und Nicolas Freund mit der Chefin des Jerusalemer Filmfestivals, Noa Regev, geführt haben. Dort gibt es frische Informationen aus erster Hand über die israelische Filmindustrie. Mit 15 Filmschulen ist das kleine Land erstaunlich gut aufgestellt. Einen ersten Boom der Filmschulen gab es Anfang der 2000er-Jahre. Regev sieht hier einen Zusammenhang mit der Notwendigkeit, sich als junge Generation ausdrücken zu wollen. Die universelle Filmsprache eigne sich gut, um von der komplexen kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Situation Israels zu erzählen. Die Festivalchefin weiß, dass Tel Aviv das kreative Zentrum in Israel ist, dass dort aber auch zwei Drittel des Gehaltes für die Wohnung der Filmemacher draufgehen. Regev leitet auch die Cinematheque in Jerusalem. Dort können Kinder aus Ost- und Westjerusalem zusammen Filme schauen. Und mit über 35.000 Filmkopien ist das Filmarchiv der Cinematheque das größte seiner Art im ganzen Nahen Osten.

Israelische Filmgeschichte kennenlernen

Über israelische Filmgeschichte ist gerade in deutscher Sprache noch relativ wenig veröffentlicht worden. Umso erfreulicher ist es, dass die Aufsätze des Sammelbandes die aktuellen Filme auch in den Kontext der israelischen Filmgeschichte einbetten. Der Autor Richard Chaim Schneider schreibt zum Beispiel über die 1950er-Jahre, in denen vor allem „heroische“ Filme in Israel produziert wurden. Sie sollten den Ethos des Zionismus unterstützen. Dazu gesellten sich frühe Kunstfilme, die deutlich von der ästhetischen Kraft der französischen Neuen Welle der 1950er- und 1960er-Jahre beatmet seien. In den 1970er und frühen 1980er-Jahre übernahmen dann laut Schneider die so genannten Boureka-Filme die israelischen Kinos. Bourekas sind gefüllte Blätterteigtaschen. In diesen Filmen ging es meist um die humoristische Auseinandersetzung zwischen Juden, die aus Europa nach Israel eingewandert waren, und jüdischen Einwanderern aus orientalischen Ländern. Wenn von israelischem Kino die Rede ist, dürfen aber natürlich nicht die berüchtigten „Eis am Stiel“-Filme vergessen werden. Diese Teenager-Klamotten der 1970er-Jahre über die Irrungen und Wirrungen israelischer Jugendliche eroberten die Welt und hinterließen vor allem in Deutschland einen bleibenden Eindruck. Gerade zur „Eis am Stiel“-Reihe hätte ein eigener Aufsatz nicht geschadet. Das Buch „Jenseits der Frontlinien“ ist ein leicht zu lesender, gut für den Einstieg geeigneter Rundumblick zum modernen israelischen Film. Vor allem die thematische Vielfalt des Sammelbandes, dessen Essays unterschiedlichste Genres analysieren, sprechen an. Das Buch macht Lust, auf eine eigene Entdeckungstour zu gehen.

C. Bernd Sucher, Stefan Fischer (Hg.): „Jenseits der Frontlinien. Texte zum modernen israelischen Film“, Bertz + Fischer, 140 Seiten, 14,90 Euro, ISBN 978-3-86505-248-3

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