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Der Zionismus in seinen Hauptströmungen

Israel sieht sich als besonderen Staat, strebt aber gleichzeitig nach Normalität. Mit diesem Widerspruch beschäftigt sich der Münchener Historiker Michael Brenner in seinem neuen Buch „Israel“ – und bringt den Lesern die facettenreiche Geschichte des Zionismus nahe. Eine Rezension von Elisabeth Hausen
In seiner Übersicht beschränkt sich Michael Brenner nicht nur auf Theodor Herzl und dessen Erben
Der Versuch, Normalität zu erreichen, ist dem Staat Israel bis heute nicht gelungen. Diese These zieht sich durch das neue Buch des Historikers Michael Brenner, das den einfachen Titel „Israel“ trägt. Ergänzt hat ihn der Autor durch die Worte „Traum und Wirklichkeit des jüdischen Staates. Von Theodor Herzl bis heute“. Und so zeichnet er auf anschauliche Weise die Geschichte des Zionismus in seinen unterschiedlichen Facetten nach. Dabei geht der Münchener Professor für Jüdische Geschichte und Kultur von vier wesentlichen Konzepten der jüdischen Moderne aus: bedingungslose Assimilation, Zionismus, sozialistischer Bundismus und jüdische Autonomiebewegung. So unterschiedlich sie waren, hätten sie doch ein gemeinsames Ziel gehabt: die Normalisierung der Juden. Der Autor nennt die von Theodor Herzl geplante „Neue Gesellschaft“, die der Begründer des Zionismus nicht als Zufluchtsort einer winzigen Minderheit geplant habe, sondern als Menschheitsexperiment. Er merkt an: „Bereits hier zeigt sich, was den Zionismus als Bewegung auch zukünftig kennzeichnen sollte: das Paradox, einerseits ein ganz normaler Staat zu sein, andererseits ein ganz besonderer Staat.“ Doch Brenner beschränkt sich nicht auf Herzls Ideen und Werdegang, die vielen Lesern in Grundzügen vertraut sein dürften. Im Kapitel „Am Scheideweg: 1897“ stellt er die vier Konzepte für den Umgang mit Judenhass vor, die alle in jenem Jahr ihren Anfang nahmen. Zwar setzte sich der Zionismus durch, aber erst nach dem Holocaust. „Weitgehend vergessen ist, dass in den Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg die Zionisten und die Bundisten nahezu gleich starke Rivalen im Kampf um die Vorherrschaft in den jüdischen Gemeinden Osteuropas waren“, schreibt der Wissenschaftler.

Stalins „Palästina“ und frühe Einstaatenlösung

Der Autor bringt viele Aspekte, die wenig bekannt sind. So träumte Herzl vom „Siebenstundenland“, in dem der Arbeitstag auf sieben Stunden beschränkt sein sollte – eine seinerzeit revolutionäre Idee. Interessant ist auch der Abschnitt über Josef Stalins „Palästina“ – der sowjetische Diktator hatte versucht, Juden in einem autonomen Gebiet in Birobidschan an der chinesischen Grenze anzusiedeln. Das Projekt stieß allerdings in der jüdischen Bevölkerung auf ein geringes Interesse. Sehr aktuell wirken Diskussionen der frühen Zionisten über eine mögliche Einstaatenlösung, die Brenner in seinem Buch aufgreift. So plädierte Se‘ev Jabotinsky 1940 in seiner Schrift „The Jewish War Front“ (Die jüdische Kriegsfront) für gleiche individuelle und kollektive Rechte für Juden und Araber. Wenn Israel einen jüdischen Regierungschef habe, sollte demnach ein Araber dessen Stellvertreter sein, und umgekehrt. Jabotinsky sei „mit den im Habsburgerreich entstandenen Autonomietheorien für nationale Minderheiten bestens vertraut“ gewesen, schreibt der Wissenschaftler und folgert: „Diese Theorien flossen auch in seine Vorstellungen vom jüdischen Staat ein.“ Dass die UNO 1947 das britische Mandatsgebiet Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat aufteilen wollte, ordnet Brenner in einen geopolitischen Kontext ein: Es entspreche „ihrer globalen Politik, die in ähnlicher Weise auf dem indischen Subkontinent verfolgt wurde, als 1947 Britisch-Indien in zwei unabhängige Staaten das islamische Pakistan und das hinduistische Indien, geteilt wurde“.

Siedler und evangelikale Bündnispartner

Differenziert schreibt der Historiker über die Geschichte der israelischen Siedlerbewegung. Er weist darauf hin, dass sie nach dem Sechstagekrieg 1967 zunächst von der regierenden Arbeitspartei gefördert wurde. Unter Menachem Begin sei die nationalreligiöse Siedlerbewegung zu einem legitimen Element im Staate geworden. Doch die rechtsgerichtete Regierung habe nicht alle Erwartungen erfüllt. Einige Mitglieder der Siedlerbewegung seien radikal geworden und hätten heimlich Terrorpläne geschmiedet: „In einer Reihe von Anschlägen gegen palästinensische Bürgermeister, aber auch gegen normale Bürger, wurde die Gewaltbereitschaft des radikalen Randes der Siedlerbewegung deutlich. Die israelische Öffentlichkeit und die gemäßigte Mehrheit der Siedler reagierte mit Schrecken, als 1984 Pläne des rechtsradikalen Untergrunds, unter ihnen prominente Mitglieder der Gusch-Emunim-Bewegung, zur Sprengung der al-Aqsa-Moschee auf dem Tempelberg aufgedeckt wurden.“ Ausführlich geht Brenner auf die Beziehungen zwischen rechtsgerichteten Regierungschefs wie Begin und Benjamin Netanjahu zu den Evangelikalen in den USA ein. Dort seien die Juden mit einem Bevölkerungsanteil von 1,7 Prozent eine unbedeutende Minderheit; proisraelische Äußerungen richteten sich an evangelikale Christen. „Nachdem die Allianz zwischen den amerikanischen Juden, der amerikanischen Regierung und der Regierung Israels immer brüchiger geworden ist, sind die evangelikalen Gruppen in den USA die verlässlichsten Verbündeten einer rechtsgerichteten israelischen Regierung“, stellt der Autor fest. Das Bündnis betrachtet der Wissenschaftler kritisch. Viele Vertreter der, wie er es nennt, christlich-fundamentalistischen Kirchen in Nordamerika sähen Israel als Stellvertreter im Endzeitkampf. „Wenn Israel die Kontrolle über das Heilige Land etabliert und in Jerusalem der Dritte Tempel errichte wird, dann – so ihre Überzeugung – wird der christliche Heilsbringer erscheinen.“ Vielen Juden sei dieses eschatologische Weltbild verdächtig, denn „bei genauerer Betrachtung wird klar, dass Israel und die Juden nur ein Mittel zum Zweck sind“. Dass eine solche Denkweise weder alle Evangelikalen noch alle christlichen Israelfreunde teilen, hätte Brenner hier deutlicher herausstellen können.

Gegenbewegung zum Zionismus

Ein weiteres Thema in dem Buch ist der sogenannte „Diasporismus“ als Gegenbewegung zum Zionismus: das Phänomen, dass Israelis in die Länder zurückkehren, aus denen ihre Vorfahren einst fliehen mussten. Brenner spricht von einem Recht auf Rückkehr in die umgekehrte Richtung. Zu möglichen Gründen für die Auswanderungswelle schreibt er: „Während religiös Orthodoxe beklagten, es sei der säkulare Charakter des Staates, der viele Israelis wieder auswandern lasse, war für säkulare Juden gerade der religiöse Zwang in manchen gesellschaftlichen Bereichen Grund zur Ausreise.“ Gleichzeitig sei der jüdische Staat zu einem Zufluchtsort für Nichtjuden geworden. Menschen kämen aus Teilen der Welt nach Israel, mit denen in den ersten Jahrzehnten niemand gerechnet habe: „Selbsterklärte Nachkommen der biblischen ‚verlorenen Stämme‘ aus Indien und Nigeria, Konvertiten zum Judentum aus Uganda, Gastarbeiter von den Philippinen und Flüchtlinge vor der Hungerkatastrophe aus dem Sudan.“ Die israelischen Araber müssten einen Spagat bewältigen „zwischen der Solidarität mit ihren arabischen Volksangehörigen und der Loyalität als israelische Staatsbürger“. Sie seien sich durchaus bewusst, „dass sie die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Errungenschaften Israels – auch im Vergleich zu den von Krisen und Gewalt erschütterten arabischen Nachbarstaaten – genießen und mit eigenen Parteien im israelischen Parlament vertreten sind“. In diesem Zusammenhang appelliert Brenner, der sich in dem Buch weitestgehend mit eigenen Meinungsäußerungen zurückhält, an die israelische Führung. Denn auch die etwa zwei Millionen Palästinenser im Westjordanland, die unter israelischer Militärverwaltung leben, gehörten an sich zu der „beträchtlichen nichtjüdischen Bevölkerung“. Israel als jüdischer und demokratischer Staat könne nur dann überleben, wenn auch den Bedürfnissen dieser Bevölkerung Rechnung getragen werde.

Aufgabenteilung zwischen Tel Aviv und Jerusalem

Am Ende seines lesenswerten Buches betont Brenner, dass Israel differenziert zu betrachten sei – was seine Ausführungen auch vorher nahelegen: „Die kurze imaginäre Reise von Jerusalem nach Tel Aviv sollte jeden Beobachter vor einem zu simplen Blick auf die israelische Gesellschaft bewahren.“ Zu seiner anfangs dargelegten These schreibt er: „In gewissem Sinn teilen sich Tel Aviv und Jerusalem die Rollen im jüdischen Staat: Tel Aviv ist eine Umsetzung der Idee, ein Staat wie jeder (westliche) andere sein zu wollen, Jerusalem dagegen steht in einer Tradition, die das Einzigartige am jüdischen Staat betont. Doch wäre es vereinfachend, Israel nur auf diese beiden Städte zu reduzieren.“ Wer sich einen Überblick über die Geschichte des Zionismus und die heutige Lage verschaffen möchte, dem ist die Lektüre des Buches sehr zu empfehlen. Es ist wissenschaftlich fundiert, aber auch für Leser geeignet, die sich nicht jeden Tag mit akademischen Texten befassen. In der Monographie werden auch die gegensätzlichen Vorstellungen deutlich, die Juden bis heute mit ihrem Staat verbinden.

Michael Brenner: „Israel. Traum und Wirklichkeit des jüdischen Staates. Von Theodor Herzl bis heute“, C. H. Beck, 288 Seiten, 24,95 Euro, ISBN 978-3-406-68822-5

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