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War die DDR antisemitisch?

LEIPZIG (inn) – Mit der Haltung der DDR gegenüber Israel hat sich ein Diskussionsforum auf der Leipziger Buchmesse befasst. Kontroversen gab es unter anderem über die Rolle des Antisemitismus in der offiziellen Politik.
In Leipzig diskutierten (v.l.) Angelika Timm, Frank Stern, Fawas Abu Sitta und Konrad Weiß.
War die antifaschistische DDR als Gegenpol zum Nationalsozialismus besonders judenfreundlich? Oder vertrat sie vielmehr eine offizielle Politik des Antisemitismus? Mit diesen und anderen Fragen haben sich die Teilnehmer einer Podiumsdiskussion auf der Leipziger Buchmesse am Freitagnachmittag auseinandergesetzt. „Zwischen Palästina-Solidarität und Antizionismus – Israel. Die DDR und die deutsche Linke“ – so lautete das Thema. Die Nahostwissenschaftlerin Angelika Timm ist in der DDR aufgewachsen. Heute leitet sie die Regionalvertretung der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv. Bei dem Diskussionsforum vertrat sie die Ansicht, dass 1952/53 in der Tat ein offizieller Antisemitismus in der DDR propagiert worden sei, ausgehend von den judenfeindlichen Übergriffen in der Sowjetunion unter Josef Stalin. Dies sei ein schlimmes Kapitel der DDR-Geschichte, aber auch eine Ausnahme. Als Versäumnis betrachtet sie es ferner, dass sich der Staat nicht an der Wiedergutmachung gegenüber Israel beteiligt hat. Hier sei die gesamtdeutsche Schuld und Verantwortung verneint worden. Denn im damaligen Sprachgebrauch der DDR seien die Wurzeln des Antisemitismus in ihrem Bereich „ausgerottet“ worden. Timm spricht von einer „Absolution für alle, die im Osten Deutschlands lebten“. Juden hätten als Opfer gegolten, Israelis hingegen als Täter. Dabei habe der Staat Israel in den Anfangsjahren unterstützt. Die Wissenschaftlerin forderte ehemalige DDR-Bürger auf, sich selbst kritisch zu hinterfragen: „Warum habe ich das nicht wahrgenommen? Warum habe ich mich nicht damit auseinandergesetzt?“ Sie selbst habe sich diesem Prozess gestellt. Ihre Doktorarbeit schrieb sie über die israelische Arbeiterbewegung. Heute versucht sie, in Israel ein realistischeres Deutschlandbild zu vermitteln – und umgekehrt der deutschen Linken ein realistischeres Bild vom facettenreichen Israel, das sie kennengelernt hat. Dazu gehöre auch, gegen Klischees vorzugehen, die nicht zuletzt aus der Berichterstattung der Medien hervorgingen.

„Araber interessieren sich für deutsch-jüdische Geschichte“

Frank Stern stammt aus Westberlin, ein Teil seiner Familie lebte hingegen in der DDR. Diese Verwandten hätten den dortigen Antisemitismus allerdings nicht als Bedrohung empfunden. Manches sei für Juden unerträglich gewesen, aber sie hätten auch andere Erfahrungen gemacht. Immer wieder habe es offizielle Solidaritätskundgebungen für kommunistische Parteien in Israel gegeben. Nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 äußerte sich Stern an der Freien Universität in Westberlin kritisch gegenüber der Solidarität mit den Palästinensern. Gemeinsam mit Michael Wolffsohn, der ebenso wie er zuvor in Israel studiert hatte, entwarf er ein Flugblatt mit der Schlagzeile: „J‘accuse“ (Ich klage an). Damit lehnten sie sich an die Reaktion des französischen Schriftstellers Émile Zola an, der Ende des 19. Jahrhunderts in einem offenen Brief auf den Judenhass infolge der Dreyfus-Affäre reagiert hatte. Die Aktion der beiden Berliner sei von anti-imperialistischen Studenten „irrsinnig kritisiert“ worden, erinnerte sich der Professor des Wiener Institutes für Zeitgeschichte. Aus Sicht des Historikers treten antisemitische Tendenzen nie allein auf. Sie seien etwa verbunden mit einem Antiamerikanismus. Hinter antizionistischer Propaganda fänden sich alle Arten von antisemitischen Vorurteilen. Stern sprach sich für einen differenzierten Umgang mit der Thematik aus. Er habe viele arabische und palästinensische Studenten erlebt, die sich für die deutsch-jüdische Geschichte interessierten. Sie hätten sich mit der Frage beschäftigt, welche Lehren daraus zu ziehen seien. Unter anderem seien dadurch fantastische Seminararbeiten entstanden.

„DDR und PLO gegen Antisemitismus“

Der palästinensische Wirtschaftswissenschaftler Fawas Abu Sitta hat in den 1970er Jahren in Leipzig studiert. Bei einer Exkursion nach Buchenwald bekam er zum ersten Mal Kontakt zu einer Dokumentation des Holocaust. In der DDR sei viel getan worden, um Erscheinungen des Antisemitismus entgegenzuwirken, äußerte er auf der Buchmesse. Witze über Araber oder Afrikaner seien verbreitet gewesen, Witze über Juden hingegen tabu – aus Respekt. Auch die „Palästinensische Befreiungsorganisation“ (PLO) habe immer eine klare Linie verfolgt, damit Antisemitismus in der Gesellschaft keinen Fuß fasse. Im Gazastreifen wiederum erlebte Abu Sitta bis zur Jahreswende 2008/09 mehrere Kriege mit. Einmal sei sein Haus beschädigt worden, als die Israelis ein öffentliches Gebäude nebenan „ausradierten“. Bei der Podiumsdiskussion sagte er, die Palästinenser hätten ihr Einverständnis zu einer friedlichen Lösung des Nahostkonfliktes seit langem bekundet. Doch Israel zögere die Verhandlungen absichtlich hinaus. Der Berliner Dozent forderte deswegen und wegen des Siedlungsbaus Druck auf die Israelis. Wenn die Zei ausgereift sei für eine Lösung, müsse noch genügend Territorium für einen Palästinenserstaat vorhanden sein.

„Die DDR war ein antisemitischer Staat“

Der Regisseur Konrad Weiß stellte fest, er habe offenbar in einer anderen DDR gelebt als Abu Sitta. Der 1942 geborene Bürgerrechtler kam 1965 mit der „Aktion Sühnezeichen“ nach Auschwitz. Seitdem sei für ihn klar gewesen: „Israel braucht unsere unbedingte Solidarität.“ Als er drei Jahre später in einer Studentenversammlung bei einer Diskussion um die neue Verfassung forderte, der Staat müsse seine feindliche Haltung gegenüber Israel aufgeben, sei er fast exmatrikuliert worden. Nach seiner Beobachtung war es immer ein Kampf, wenn etwa ein Filmemacher einen Beitrag über Juden veröffentlichen wollte. Israel sei in der DDR totgeschwiegen worden, die Bürger hätten keinerlei Informationen über jüdische Traditionen erhalten. Für Weiß steht fest: „Die DDR war nicht nur ein antizionistischer, sondern auch ein antisemitischer Staat.“ Glücklicherweise habe sich die freigewählte Volkskammer nach dem Mauerfall von dieser Haltung distanziert. Die Moderation der Diskussionsrunde im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig hatte Winfried Sträter von „Deutschlandradio Kultur“.

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