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Regierung im Zickzack-Modus

Zunächst galt Israel als Vorbild für die herausragend gute Bewältigung der Corona-Pandemie. Inzwischen macht das Land Schlagzeilen mit sprunghaft steigenden Infiziertenzahlen und wurde zum Gegenteil eines nachahmungswürdigen Vorbildes. Und doch: von Israel kann man lernen! Ein Gastbeitrag von Antje C. Naujoks, Be'er Scheva
Gegen die Corona-Politik der israelischen Regierung gibt es wütende Proteste. Bei den Demonstrationen wird kein Abstand eingehalten, auch an die Maskenpflicht halten sich nicht alle Bürger.

Ehrlich gesagt war es von vornherein klar, dass das nicht gutgehen wird: Wenn ein israelischer Premierminister Mitte Mai 2020 den Bürgern seines Landes sagt, dass sie es sich nach Aufhebung der Ausgangssperren nun gut gehen lassen sollen, so kann er darauf bauen, dass sie das auch tatsächlich tun, und zwar ausgiebig.

Werden solche Worte an Bürger gerichtet, die das Wort Disziplin aus der Armeezeit kennen, es danach aber nur allzu gerne in den Wind schreiben und es sich zur Gewohnheit gemacht haben, Verbote entsprechend ihrer eigenen Interpretationen auszulegen, dann kommt das heraus, womit Israel jetzt umgehen muss. Wenn dann auch noch steigende Infiziertenzahlen auf eine politische Realität treffen, in der aufgrund von Machtkämpfen Entscheidungen verschleppt werden, Schlüsselpositionen unbesetzt bleiben und Planung fehlt, so ist das ein Rezept für einen Virus-Siegeszug.

Sprunghafter Anstieg der Infektionszahlen im Juli

Im Ausland wird umfassend über die zweite Covid-Welle berichtet, die durch Israel rollt. Dennoch soll hier zur Veranschaulichung die mitten in den Sommerferien 2020 gegebene Größenordnung kurz dargelegt werden. Ende Juli war in Deutschland beispielsweise bezüglich der Stadt Hamburg von „sprunghaft steigenden Zahlen der Neuinfizierten“ die Rede. Zu dem Zeitpunkt gab es in der Hansestadt insgesamt 5.321 bestätigte Fälle, von denen 5.000 als geheilt galten. Ende Juli kamen dann täglich fast 20 Neuinfektionen hinzu. Bei Ausgangslage von 321 aktiven Fällen durchaus nicht wenig.

Ein Blick nach Israel, beispielsweise zur 50.000 Einwohner zählenden Stadt Kiriat Gat, rund 70 Kilometer südlich von Tel Aviv, zeigt folgende Statistik: Zwischen März und Juni, also im Verlauf von vier vollen Monaten, gab es unter den Einwohnern dieser Kleinstadt insgesamt 168 bestätigte Covid-19-Fälle. Innerhalb von 24 Tagen im Monat Juli mussten in dieser Stadt 387 Neuinfektionen festgestellt werden. Damit wurden rund 69 Prozent aller Infektionsfälle in Kiriat Gat in einem Zeitraum von lediglich drei Wochen verzeichnet.

Mit anderen Worten: Während Hamburg mit seinen zwei Millionen Einwohnern, das somit 40 Mal mehr Einwohner als Kiriat Gat zählt, Ende Juli 2020 täglich rund 20 Neuinfektionen verzeichnet, bringt es diese israelische Kleinstadt zurzeit Tag für Tag auf 14 bis 16 Neuinfektionen. Deutlich festgehalten werden muss außerdem leider: Kiriat Gat schafft es in der israelischen Statistik der grassierenden Neuinfektionen gerade einmal unter die Schlusslichter der Rangliste.

Verhältnismäßig wenig Todesopfer

Die hier aufgezeigte Lage für Kiriat Gat deckt sich mit dem Gesamtbild für das Land, dessen Experten kaum mehr eine Ahnung haben, wie Ansteckungsketten verlaufen, geschweige denn, wo sie begonnen haben. Trotzdem, so halten immer wieder einige dagegen, rangiert die Zahl der Todesopfer in Israel im moderaten Bereich. Anfang Juni beklagte Israel 290, Ende Juni 320 und Ende Juli 470 Todesopfer. Verglichen mit anderen Ländern sind das tatsächlich verhältnismäßig moderate Zahlen.

Dafür gibt es mehrere Gründe, wie zum Beispiel die junge Altersstruktur der israelischen Gesellschaft. Im Zuge der zweiten Welle muss ebenfalls festgehalten werden, dass die Zahl der schwerwiegend Erkrankten mit aktuell rund 300 Personen weiterhin relativ stabil blieb. Dass sich die älteren Bürger auch nach Mitte Mai, als viele Beschränkungen bereits gelockert oder gar ganz aufgehoben waren, weiterhin isoliert hielten, trägt einen Teil dazu bei. Folglich wurden im ganzen Land recht wenig Menschen infiziert, die älter als 70 Jahre waren. Das wirkt sich positiv auf die Zahl der intensivmedizinisch zu behandelnden Patienten aus.

Zickzack-Kurs der Regierung sorgt für Verärgerung

Medizinisch mögen das gute Nachrichten sein. Doch für die mentale Verfassung der weiterhin isoliert lebenden israelischen Senioren und all jener, die sich an Vorgaben halten, sind die ansonsten Land auf, Land ab gefeierten Festlichkeiten und Partys, deren Veranstalter es fast durch die Bank weg mit der Beschränkung der Anzahl der Gäste nicht so genau nehmen, nicht nur Spott und Hohn. Sie sind auch eine Ohrfeige für die ohnehin gebeutelte Seele.

Unterm Strich lässt sich festhalten: Israel reagierte sehr früh und zudem mit sehr harschen Restriktionen. Doch so extrem, wie die Regierung die Pandemie anging, so unverhältnismäßig umfassend und schnell wurden Lockerungen zugelassen. Anschließend wurde in fast allen Bereichen des öffentlichen Lebens ein Zickzack-Kurs gefahren. Mal wurde angekündigt, dass Cafés und Restaurants unter bestimmten Auflagen öffnen dürfen, dann wurden Gastzahlen erneut zurückgeschraubt. Kurz darauf hieß es, dass solche Lokalitäten wieder schließen müssen.

Zum angekündigten Zeitpunkt waren Gastwirtschaften nicht nur geöffnet, sondern durchweg gut frequentiert. Der Zickzack-Kurs betraf viele Bereiche der Wirtschaft ebenso wie Kriterien für Testansprüche, die Anzahl der durchgeführten Tests, durchführende Labore, Quarantänevorschriften und die Definition des Krankheitsstatus, die beinahe wöchentlich geändert wurden. Das Hin und Her traf auch eines der „Wundermittel“ Israels im Kampf gegen die Pandemie: Hightech gekoppelt mit Geheimdiensteinsatz.

Vertrauen in moderne Technik

Auch diesbezüglich war Israel eines jener demokratischen Länder, das die Rechte der Bürger auf Privatsphäre am meisten einschränkte. Viele Israelis hatten zwar Bedenken, dass solche Eingriffe vielleicht nicht gänzlich zurückgenommen werden, dass Daten gespeichert bleiben könnten. Doch insgesamt vertrauen sie nicht nur moderner Technologie, sondern auch Institutionen wie den Inlands- und Auslandsgeheimdiensten Schabak und Mossad, die in „Normalzeiten“ ihre Sicherheit gewähren. Deshalb hegen Israelis diesbezüglich weitaus weniger Misstrauen als Bürger anderer Länder.

Doch das kann nun einmal auch Ecken und Kanten haben. So, wie Deutschland wegen der fehlerhaften Corona-App-Funktion zur Meldung von Kontakt mit verifizierten Infizierten Schlagzeilen machte, erging es auch Israel. Da der jüdische Staat seine legendäre Geheimdienstfront mit dem GPS-Tracking von Mobilfunkdaten beauftragte, dann wieder zurückpfiff und schließlich doch wieder aktiv werden ließ, war auch hier ein typisch nahöstliches Vor- und Zurückrudern gegeben.

Chaotische Zustände

Anfang Juli wieder zur Fahnenstange gerufen sandten Israels Geheimdienste Tausende Bürger in Quarantäne, auf einen Schlag, innerhalb weniger Stunden. Das allerdings zog nicht nur potenziell Infizierte aus dem öffentlichen Leben, sondern es wurden auch Personen in Quarantäne beordert, die zum fraglichen Zeitpunkt zum Beispiel im Bett lagen und die von ihrem infizierten Nachbarn eine Wand trennte.

Erschwerend kam hinzu, dass vorab für Widerspruchsmöglichkeiten keinerlei Kapazitäten geschaffen worden waren. Es brach also typisch israelisches Balagan aus – Chaos. Die Folge: Unzählige verärgerte Betroffene. Noch mehr Bürger, die die Anweisungen jetzt erst recht nicht mehr ernst nahmen und sowie kritisieren, weil sie wirtschaftlich aufgrund der Beschränkungen und der minimalistischen staatlichen Hilfe arg bluten. Neueste Statistiken zeigen, dass 55 Prozent aller israelischen Haushalte nicht mehr wissen, wie sie finanziell bis zum Ende des Monats zurechtkommen sollen.

Anerkennung für den Mossad

Andererseits muss zum Mossad gesagt werden: Gerade bei der Beschaffung medizinischer Ausrüstungen, von Masken über Medikamente bis hin zu Beatmungsgeräten, leistete dieser eine schier unglaublich gute Arbeit. Diese reichte bis hin zu Kontakt mit Staaten, zu denen Israel keine diplomatischen Beziehungen unterhält. Dem zollen Israelis viel Anerkennung.

Ein solcher Respekt vor Israels Geheimdienstarbeit heißt allerdings nicht, dass die Bürger des Landes Gesetze respektieren und die unter anderem vom Mossad beschafften Atemschutzmasken tatsächlich wie verordnet in der Öffentlichkeit tragen. Ganz im Gegenteil, denn in Israel ist es durchaus an der Tagesordnung, dass Polizisten Personen wegen Verletzung der gesetzlich verordneten Maskenpflicht mit Strafzetteln bedenken. Dabei kommt es vor, dass sich ringkampfähnliche Szenen abspielen, in denen die Sicherheitskräfte Bürger verhaften, während sie selbst die Maske am Kinn hängen haben oder der Atemschutz neben dem Revolver am Gürtel baumelt; ganz dem Beispiel eines guten Teils der Bevölkerung folgend.

Nicht alle Bürger tragen die Maske auch tatsächlich in der Öffentlichkeit Foto: Israelnetz/mh
Nicht alle Bürger tragen die Maske auch tatsächlich in der Öffentlichkeit

Anordnungen werden mit kreativen Lösungen umgangen

Die israelischen Nachrichtendienstexperten mussten zugeben, dass ihre Fähigkeiten – wie auch die entwickelte Technologie – herausragend gut sind, wenn es darum geht, einen einzelnen Terroristen in einem Einkaufzentrum rechtzeitig zu identifizieren. Bei der „Erkennung von Massen“ gibt es jedoch Probleme. Israelis hatten längst auf das zurückgegriffen, wofür sie berühmt sind: äußerst kreative Lösungen für jedwede Szenarien.

Wer Bahnen in geschlossenen öffentlichen Schwimmbädern ziehen wollte, wurde einfach Mitglied der professionellen Schwimmerliga des Landes; einmaliger unbürokratischer Mitgliedsbeitrag umgerechnet rund 26 Euro. In Corona-Hotels zwangsweise einquartierte Infizierte kletterten nachts über Zäune, um in Pubs feiern zu gehen. Das Smartphone war natürlich dabei – kaum ein Israeli lässt sein Mobiltelefon auch nur kurze Zeit aus der Hand – nur befand sich darin eben nicht mehr die registrierte SIM-Karte.

Beim Zahlen der Zeche blieb die Kreditkarte in der Hosentasche, so dass die Person weder während des Kneipenbesuchs noch danach aufgespürt werden konnte. Ohne registrierte SIM-Karte gingen auch Tausende Israelis zu den sich mehrenden Demonstrationen – zu denen übrigens ausgerechnet ein Arzt in den sozialen Medien aufgefordert hatte.

Türkei-Urlaub trotz Quarantäneanweisung

Mindestens ein Bürger des Landes nutzte zudem ein Schlupfloch, das die fehlenden leitenden Hände, die schlafenden Behörden, die überlasteten Labore und die überforderten Mitarbeiter der epidemiologischen Erfassung gelassen hatten. Der junge Mann war zu häuslicher Quarantäne verdonnert. Als dann nach etlichen Tagen sein Covid-19-Testergebnis kam – einige Israelis mussten sieben und mehr Tage darauf warten –, erreichte ihn der Anruf des Gesundheitsministeriums mit dem Bescheid „positiv“ in einem Hotel an der türkischen Riviera. Weil er keine Symptome hatte, war er trotz Quarantäneanweisung dort hingeflogen.

Die israelischen Medien gaben daraufhin bekannt, dass das Außenministerium 199 Fluggäste sowie die betroffenen Hotels in der Türkei ausfindig zu machen versucht, was eine logistische Herausforderung sei. Wahrlich einfacher wäre eine personenbezogene Meldung an die Grenzbehörden gewesen, doch auch da fehlte jegliche Koordination.

Keine positiven Schlagzeilen für Israel! Und doch darf gesagt werden: Trotzdem kann Israel ein Vorbild sein, dieses Mal jedoch dafür, wie man es nicht machen sollte.

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