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Gastronomen wollen Klarheit

Restaurantbesitzer setzen sich für mehr Klarheit in ihrem Gewerbe ein – und lassen sich ihren Protest etwas kosten: Vor der Residenz des Premierministers verteilen sie 7.000 Gerichte an Demonstranten.
Gastronomen verteilen ihr Essen kostenfrei an Demonstranten

JERUSALEM (inn) – „Es reicht“, ruft Assaf Doktor empört. Der Besitzer von drei Restaurants ist am Dienstagabend mit einigen Mitarbeitern aus Tel Aviv nach Jerusalem gekommen. Hunderte von Beschäftigte aus der Gastronomiebranche sind gekommen, um während einer Demonstration in der Nähe der Residenz des Premierministers eine klare Politik zu fordern und auf ihre schwierige Situation hinzuweisen. Sie wollen auf die widersprüchlichen Regeln aufmerksam machen, die für ihre Branche in den vergangenen Tagen und Wochen angesagt waren. Deshalb haben sie sich eine kostspielige Aktion einfallen lassen.

Zwischen zwei Bauzäunen, an der Ecke zwischen der Balfour-Straße und dem Pariser Platz, haben sie und viele Helfer Hunderte von Kisten mit mitgebrachten Speisen aufgebaut. Doktor sagt: „Unsere Regierung hat völlig die Kontrolle verloren! In den letzten Tagen war es ein totales Hin und Her. Erst hieß es, wir müssten unsere Restaurants schließen. Dann kam am Freitagmorgen die Ansage, dass wir doch öffnen dürften. Aber nur bis Dienstag, also bis heute.“

Viele seiner Kollegen hatten angekündigt, die Gaststätten entgegen der Verbote öffnen zu wollen – und damit eine Strafe von umgerechnet mehr als 1.200 Euro zu riskieren. Daraufhin kippte am Dienstagmorgen der für den Umgang mit der Corona-Krise zuständige Knesset-Ausschuss den Regierungsbeschluss: Die Lokale dürften nun doch geöffnet bleiben. In geschlossenen Räumen seien 20 Gäste erlaubt, draußen dürften 30 Leute bewirtet werden.

Doktor findet diese Regeln völlig unsinnig: „Wir wollen uns von der Regierung nicht diktieren lassen, wie und wann wir öffnen sollten. An den Regeln für die Gastronomie hängen etwa 200.000 Beschäftigte. Wir alle zahlen Steuern und Krankenversicherung. Nun fordern wir, dass man sich für uns einsetzt.“

Aufmerksamkeit auf schwierige Lage der Gastronomen lenken

Die Gastronomen sind verunsichert, viele schimpfen: „Was sollen wir denn nun tun? Unseren Kellnern sagen, dass sie zur Schicht kommen oder doch zu Hause bleiben sollen?! Wir brauchen endlich klare Ansagen!“ Für Aufmerksamkeit soll nun die Essensausgabe dienen. Sie steht unter der Überschrift „Dies ist nicht das letzte Abendmahl – der Protest der Restaurantbesitzer kommt nach Balfour“.

Gastronomen verteilen mehrere Stunden lang warme Gerichte, Wasser, Saft und Kuchen. Kommen darf jeder, der hungrig ist. Es ist ein wildes Durcheinander, auf jedem Päckchen klebt ein Schildchen – da heißt es etwa: „vegan“, „vegetarisch“, „Fleisch“, „Pasta“ oder „gekocht in unkoscherer Küche“. Der letzte Hinweis sorgt für Verwirrung bei manchem Besucher. Udi Goldschmidt, Restaurantkritiker und Referent für kulinarische Themen, erklärt: „Die Gerichte an sich sind nicht unkoscher. Aber sie wurden in Küchen gekocht, die kein Kaschrut-Zertifikat haben.“

Zu den angedachten Maßnahmen der Regierung erläutert er: „Ein Restaurant kann man nicht von heute auf morgen öffnen oder schließen, wie es einem beliebt. Das erfordert viel Planung: Man muss einkaufen, Schichten für Mitarbeiter festlegen und es muss sich an irgendeiner Stelle auch rechnen.“ Laut Goldschmidt beteiligen sich mehr als 60 Restaurants an der Essensausgabe. „Alle arbeiten auf höchstem Standard. Zusammen haben wir 7.000 Gerichte bereitgestellt, die wir heute an die Bevölkerung verteilen.“ Der Hobbykoch hat sich auf kulinarische Touren spezialisiert, vor allem in Israel und Italien. Seit Beginn der Corona-Krise musste er mehrere Reisen absagen.

Auch Nadav Malin ist gekommen, um zu protestieren. Wie viele der Restaurantbesitzer steht er am Rand und sieht, wie sich die Demonstranten in einer Schlange einreihen, um sich ihre Portion abzuholen. Den Helfern rufen diese zu: „Wir stehen hinter euch! Macht weiter so! Wir müssen alle für unsere Rechte kämpfen!“

„Ein Land unter Druck“

Malin führt ein Restaurant in Abu Gosch, nur wenige Kilometer von Jerusalem entfernt. Daneben betreibt er einen Catering-Service, wo er häufig für mehrere hundert Leute kocht – er kocht so saisonal und regional wie möglich und ist bekannt für seine nachhaltige Küche: Slowfood statt Fastfood – das Konzept findet in Israel immer mehr Anhänger.

„Ich wünschte, es wäre hier mehr wie in Deutschland“, sagt er bedacht. Ob er damit das Bewusstsein für Slowfood meint oder das aktuelle Pandemiemanagement der Regierung, lässt er offen. Er hält einen Kochlöffel und einen Topf in der Hand – und den ganzen Abend ein Pappschild hoch: „Ein Land im Dampfkochtopf“, das ist ein Wortspiel, es ließe sich auch lesen „Ein Land unter Druck“. Auf dem Bild seiner Freundin Adi steht geschrieben „Kein Brot, kein Kuchen“. Das spielt darauf an, dass viele Israelis zur Zeit nicht wissen, wovon sie sich ernähren beziehungsweise ihre Rechnungen bezahlen sollen.

Die Essensausgabe unterdessen geht weiter. Einer trägt eine rote Schürze, auf der in großen schwarzen Lettern steht: „Ich bin doch kein Schnitzel – Hört auf, auf mir rumzukloppen!“. Goldschmidt ist sichtlich glücklich, dass die Aktion läuft und von Demonstranten und Passanten gut angenommen wird. „Seit gestern Morgen haben wir unermüdlich gearbeitet“. Er läuft von einem Koch zum nächsten, erntet zwischendurch ein anerkennendes Schulterklopfen und setzt sich kurz hinter die Ausgabe, um sich einen Schluck Wein in einem Plastikbecher zu genehmigen. „Es ist ein Trauerspiel, was die Regierung mit diesen begabten Köchen und Restaurantbesitzern veranstaltet!“

Er unterhält sich mit Ravit, eine von Doktors Angestellten im Restaurant „HaAchim“. Die 31-Jährige ist überzeugt: „Es ist gut, dass hier etwas in Bewegung kommt. Gut, dass wir endlich aufstehen. Wenn wir nicht schon am letzten Freitag angekündigt hätten, dass wir diesen Zirkus nicht mitmachen – vielleicht würde dann immer noch gelten, dass wir unser Restaurant an den Wochenenden künftig schließen müssen – diese Regel trägt doch in keiner Weise dazu bei, die Ausbreitung des Virus zu verhindern.“ Sie ist optimistisch: „Wir haben schon viel erreicht bisher. Aber wir machen weiter.“

Proteste gegen Netanjahu im Zentrum

Die Essensausgabe ist ein Nebenschauplatz in einem größeren Geschehen: An diesem Dienstagabend kommen erneut mehrere Tausend Protestler zusammen. Sie fordern den Rücktritt von Premierminister Benjamin Netanjahu, der wegen Korruptionsvorwürfen angeklagt ist. Außerdem fordern sie einen Plan der Regierung, die sich mit der Corona-Pandemie beschäftigt.

Gekommen ist auch Nahum, Facharzt für Geriatrie am Hadassa-Krankenhaus: „Ich demonstriere schon seit 2017 vor der Residenz des Premierministers. Manchmal waren wir zu fünft, manchmal auch 15 Personen.“ Er macht eine ausladende Armbewegung – bei einem Sturz auf der Demonstration vor einer Woche hat er sich den linken Arm gebrochen. „Wenn ich mir anschaue, wieviele Menschen heute und schon in der ganzen letzten Woche hier zusammenkommen, um zu protestieren, freue ich mich. Solche Demonstrationen hat Jerusalem seit den Verträgen von Oslo nicht gesehen.“ Im Gegensatz zu früheren Demonstrationen würden nun vor allem die jungen Leute auf die Straße gehen.

Am Dienstagabend ziehen diese lautstark, aber friedlich, weiter zum Parlamentsgebäude, der Knesset. Erst in den späten Abendstunden, nach 23 Uhr und damit nach Ablauf der genehmigten Protest-Zeit, kommen sie zurück. Und dann gibt es, zur Zufriedenheit mancher Zaungäste – die scheinen nur darauf gewartet zu haben – doch noch Auseinandersetzungen zwischen einzelnen von ihnen und der Polizei. Letztere setzt Wasserwerfer ein und nimmt 34 Demonstranten fest. Ob diese Bilanz den Anwohnern des gut situierten Viertels Rechavia, in der die Balfour-Straße liegt, genügt, bleibt zu bezweifeln. Wegen der lautstarken Proteste, die in der vergangenen Woche weit in die Nächte hineinreichten, hatten sie sich mit einer Petition an den Obersten Gerichtshof gewandt.

Von: mh

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